Als ich zum ersten Mal im Oktober 2015 das Notquartier im Ferry Dusika Stadion betrat, waren hier rund 900 geflüchtete Männer untergebracht, die großteils auf Gymnastik-Matten schliefen und vom Österreichischen Bundesheer zwei Mal pro Tag mit Essen versorgt wurden. Die ersten Wochen des Lebens im Stadion waren geprägt von „Management by Chaos“… ich organisierte dort jedes Wochenende den „Koch-Marathon“, bei dem gemeinsam mit Studienkolleginnen, Freund*innen und verschiedenen Stadionbewohnern das Motto „cut-cut-cut“ herrschte.

Dank der Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ konnten wir auch Nahrung für die Seele bereitstellen und mit dem Kulturpass regelmäßig verschiedene Ausstellungen und Museen besuchen.

Die Aktion

Gibt es ein Menschenrecht auf Kunst? Auf Kultur? Auf Besuche in Ausstellungen, Museen, Filme, Bibliotheken…? Ich denke, es hat viel mit Menschenwürde zu tun, wenn selbst bei knappstem Einkommen kein Auskommen ohne Kultur- oder Kunstgenuss sein muss.

Die Aktion „Hunger auf Kunst & Kultur“ wurde 2003 von Schauspielhaus Wien in Kooperation mit der Armutskonferenz initiiert, um die Türen und Tore zu Kunst & Kultur auch für sozial benachteiligte Menschen zu öffnen. Menschen mit finanziellen Engpässen haben ein Recht auf Kunst & Kultur. Der Kulturpass macht es möglich. Anspruch auf den Kulturpass haben Personen, die in prekären, finanziellen Verhältnissen leben:
BezieherInnen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS)
Personen, denen die Ausgleichszulage zusteht (MindestpensionistInnen)
Personen, die Notstandshilfe beziehen
Personen, die Arbeitslosengeld beziehen und deren Tagsatz unter € 41,26 liegt
Personen, deren Haushaltseinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt
AsylwerberInnen, Menschen in Grundversorgung.

https://www.hungeraufkunstundkultur.at

 
Das Lesebuch

Stefanie Panzenböck, Monika Wagner (Hrsg.): Von der Würde der Wellen und den Grenzen des Gugelhupf. Ein Lesebuch. Geschichten von und über Menschen, für die sich durch den Kulturpass wieder eine Türe zu Kunst und Kultur und zum Leben geöffnet hat.(Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra). Das Buch ist auch im "Schön & Gut"-Laden um € 15,- erhältlich: https://www.fairkauf.at/Schoen-Gut-wohnen/

 

Die Anwendung – Vorgeschichte

Als ich zum ersten Mal im Oktober 2015 das Notquartier im Ferry Dusika Stadion betrat, waren hier rund 900 geflüchtete Männer untergebracht, die großteils auf Iso- oder Gymnastik-Matten schliefen und vom Österreichischen Bundesheer zwei Mal pro Tag mit Essen versorgt wurden.
Die ersten Wochen des Lebens im Stadion waren geprägt von „Management by Chaos“… ich organisierte dort jedes Wochenende den „Koch-Marathon“, bei dem gemeinsam mit Studienkolleginnen, Freund*innen und verschiedenen Stadionbewohnern das Motto „cut-cut-cut“ herrschte. Wir gründeten in Folge eine studentische Plattform, die Braintrain-er*innen auf beiden Seiten fanden rasch zueinander, neben Deutsch-Training wurden verschiedene Aktivitäten organisiert, um die Burschen zumindest für ein paar Stunden aus der Lager-Situation raus und auf andere Gedanken zu bringen. Damals war es noch eine Prestige-Sache für „die Flüchtlinge“ Engagement zu zeigen – wahlweise in den immer wiederkehrenden Bahnhofs-Elegien („nie werde ich die Augen des Kindes vergessen, dem ich das Stofftier in die Hand gedrückt habe…“) oder in bereitwilligen Zuwendungen verschiedenster Benefiz-Formen, teils indirekt („du brauchst mir das Geld nicht zurückzahlen, du stellst eh mehr auf die Beine, als viele Hauptberufliche…“ meinte etwa der nicht genannte MBIT-Agentur-Chef aus Krems) teils in Form von Spenden direkter Art (Wein für Versteigerung und Ausschank, Sportartikel und -ausrüstung/ Intersport St.Pölten, Leih-Auto/ Share Me, Großmengen an Fleisch geliefert von der muslimischen Community aus Niederösterreich…).
Dank der Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ konnten wir aber Nahrung für die Seele bereitstellen und mit dem Kulturpass regelmäßig verschiedene Ausstellungen und Museen besuchen.
Anfangs Februar 2016 organisiere ich den ersten Rundgang im Kunsthistorischen Museum.
Im Namen der Plattform Braintrain sind wir, eine Studienkollegin und ich mit einer Gruppe von rund fünfzehn jungen Männern unterwegs, der Großteil afghanischer Herkunft, davon sind vier ehemalige Studenten (Kabul, beziehungsweise im Iran), allen sind Kunst- und Geschichte-Lektionen unbekannt, alle kommen aus konservativ muslimischem Scheuklappen-Unterricht.

Der Kulturpass in action

Als könnte ich ihren Flügelschlag hören, starre ich gebannt auf die akkurat gemeißelten Linien in geometrisch anmutenden Formen, die die überdimensionalen Schwingen von Isis darstellen.
„Die ägyptische Göttin deckt multifunktionale Aufgabengebiete ab, sie ist vor allem die Beschützerin von Frauen, begleitet aber auch alle Seelen ins Totenreich. Irgendwie logisch, oder?“ frage ich meine staunenden Begleiter, die erst vor wenigen Wochen aus diversen orientalischen Kulturen nach Österreich geflohen waren, um hier mitten in Wien alt-ägyptische Exponate zu bestaunen, von deren Existenz sie noch nie oder nur wenig gehört haben. Während sie ungläubig Sarkophag und zugehörige Hinweisschilder samt Jahreszahlen scannen, ergänze ich noch, dass quasi Isis-Äquivalente, die Göttinnen Ishtar und Hathor wahrscheinlich schon in vorbabylonischer Zeit mächtige Muttergöttinnen in der Gegend „bei ihnen daheim“ waren.

Ich schaue in verdutzte Gesichter, sehe erhobene Brauen und geweitete Augen auf mich gerichtet.
„Frauen bringen das Leben ins Leben, also macht es wohl Sinn, wenn eine weibliche Macht auch wieder aus diesem raus begleitet… zumindest in den geerdeten, archaischen Gesellschaften des Altertums ist das so, in den noch nicht-verkopften und -zerdachten Gemeinschaften,“ erkläre ich das Konzept von Göttin und füge bedächtig hinzu: „Erst als Krieg aktiv und insbesondere als er im Namen von Religion zum Zwecke der Unterwerfung, des Landraubs und der Zerstörung fremder Kulturen angezettelt wird, treten an den himmlischen Fronten vorwiegend männliche Gewalten in Dienst, wie der Gott des Krieges, der Gott der Totenreiche. Menschheitsgeschichtlich gesehen sind die jüngsten Gott-Modelle alte, weißbärtige Männer samt Allmacht-Geschichten eines einzig 'wahren Glaubens' im monotheistischen Sinne. Diese Abraham-Erzählungen von Gott, Allah, Jachwe, Jehova und so weiter sind im Grund-Konzept alle gleich. Auch die Alt-Männer-Phantasien, die die Frauen prinzipiell in die Wüste aller Gleichberechtigung schicken, mehr oder weniger brutal halt, aber immer völlig ohne Basis einer entsprechenden Beweisgrundlage. Die jeweiligen Überlieferungen nämlich wurden immer von Männern – großteils von alten Männern! – in fremder Sprache unterschiedlich übersetzt, interpretiert und kulturell verfremdet.“

Ich wende mich von den Sarkophagen ab, damit das Getuschel buchstäblich hinter meinem Rücken abgehen kann. Denn im nächsten Moment vergewissern sich die nicht so gut Englisch sprechenden, jungen Männer des Orients beim Dolmetscher ihres Vertrauens, ob ich eben tatsächlich Gotteslästerung begangen habe… Meine Kollegin raunt mir zu, dass das schon ein bissl heftig ist, ich frage das Kind der Provinz in aller Unschuld: „Für dich oder für die Burschen?“ und wende mich an beide Zielgruppen, wenn ich überzeugt ergänze: „Da müssen's durch. Das ist angewandter Darwin im Schnelldurchlauf, eben survival of the vifest. Ich muss sie provozieren, damit sie lernen, dass sie ihre Meinung vertreten können, dürfen und müssen – egal wem gegenüber. Und auch wenn ihre Ansicht nicht mit meinen Überzeugungen deckungsgleich ist, finden wir einen Weg im Gespräch, in der Diskussion, um miteinander auszukommen. Das ist es, was sie ganz schnell lernen müssen, das richtige Streiten, das Argumentieren. Wozu sonst das Mama-Getue? Das mag ja nett sein zwischendurch und mir den Grundrespekt sichern – gleichzeitig kommt damit aber auch die Verantwortung, sie möglichst rasch alltagsfit zu machen für das Leben in freier Wildbahn. Außerhalb des Stadions treffen sie vor allem politisch Unkorrekte, müssen mit Vorurteilen umgehen, dürfen auf Anfeindungen nicht aggressiv reagieren – im Stadion sind sie in geschützter Werkstätte mit lauter Umarmungsmenschen. Wie lange dauert das?“

Sie nickt und ich denk mir, dass wir schon genug Bauernbündler aus eigenem Anbau in diesem Land aushalten, die längst damit begonnen haben, das erzkonservative Rad zu drehen, die gesellschaftlichen Uhren zurückzustellen und nach dem Mutterkreuz auszurichten. Da muss ich doch die zukünftig „neuen Österreicher“ zu emanzipierten, aufgeschlossenen Männern erziehen versuchen – wenigstens jene, die entsprechend Verstand und/ oder auch (Herzens-)Bildung mitbringen.

Im nächsten Raum kichern wir nicht nur über in Stein gehauene Zumpferl und Busen der Statuen, sondern stoßen auch auf Zeugnisse der griechischen Kolonialisierung im heutigen Süditalien mitsamt weiterer Vorstellungen von göttlichen Mächten. „In diesen Gebieten wechselten in den vergangenen zweitausend fünfhundert Jahren viele Male die Machtverhältnisse, also auch die jeweiligen Religionen. Gleich geblieben ist bis zum heutigen Tag lediglich die Methode der Unterwerfung, die Verbreitung von Glauben durch Mord und Totschlag, weil sich die jeweiligen Religionen grundsätzlich immer mit den Mächtigen in Herrschaft und Finanz ins Bett legen.“ Betreten schlagen die jungen Männer die Augen nieder und fräsen minutenlang mit starrem Blick Löcher in den Boden – vielleicht warten sie auch nur darauf, dass sich derselbe auftut und mich eine nicht näher definierte Höllenmacht im nächsten Moment verschlingen wird. Aber nicht nur im Kunsthistorischen Museum bleibt diese auf Phantasiegemälde in buntesten Bildern aus längst vergangenen Zeiten beschränkt.
Also rede ich in "teuflischer" Manier weiter: „Auch die unheiligen Formen von Gehirnwäsche funktionieren in allen Religionen gleich: Ein nebuloser Glaube wird über faktenbasiertes Wissen erhoben. Das funktioniert nur, weil die Unterdrückung von Information und das Dumm-halten großer Bevölkerungsgruppen organisiert ist – heutzutage immer noch dank gleichgeschalteter Institutionen wie bestimmte Schulen und Kirchen, in eurem Fall halt Koranschule und Moschee.“

Zarter Protest aus der ersten Reihe, meine Kollegin merkt an, dass in Österreich nun tolerante Glaubenserziehung und so… „die Kreuze in den Klassenzimmern schon passé sind?“ frage ich betont unaufgeregt und denke laut in Deutsch weiter: „Ich wäre ja für einen Raumschmuck, der die Galaktische Föderation visualisiert… oder vielleicht sollten die Krafttiere der Kinder abgebildet werden… vielleicht findet auch noch eine Thor-Statuette Platz, wie er so in gebündelter Virilität den Hammer schwingt, stammesgeschichtlich auch wesentlich bodenständiger zu unserer Gegend passend im Lichte der Völkerwanderung betrachtet… abgesehen von der Kernbotschaft trägt er doch auch die wesentlich entspanntere Energie, als jene des altertümlichen Folterinstruments mit einer Leiche drauf. So meine ganz emotionslose Feststellung einer Außenstehenden.“
Die Kollegin gesellt sich zu den Bodenfräsern, ich wechsle wieder zum englischen Vortrag, bleibe aber beim Thema und verbeisse mich wie ein Rottweiler, im Versuch es tot zu schütteln…

Was alle Gottgläubigen vereint und bei der Stange hält, ist die Angst. Vor allem die Angst vor Fremden und Fremdem, vor dem Verstoßen werden aus einer nicht näher definierten Gemeinschaft, vor der Ablehnung durch die eigene Familie. „Ihr überwacht euch doch auch wechselseitig,“ sage ich zu den Burschen, die erst verlegen nicken und mir schließlich zögernd recht geben. „Wisst ihr eigentlich wo das herkommt, diese ganzen Gebote und Vorschriften? Steht so im Koran? In der Bibel? Mag sein, ich weiß es nicht so genau. Ich hab meine eigene Theorie, die ein bissl mit meinem Geschichtsverständnis zu tun hat, wie auch mit dem Interesse für Anthropologie und Ethnologie.“
Ich ersuche nun um eigenes Nachdenken, um eigene Gedankengänge darüber, wie das denn wohl damals gewesen sein könnte, das Zusammenleben in den Wüstenregionen. Damals, als diese Wüstenreligionen entstanden sind, als die Gesellschaften in Familien-Clans und Beduinen-Stämmen organisiert waren, in kleinen Gemeinschaften, die einander schützten und schützen mussten, auch indem sie sich rigoros abgrenzten. Weil es weder ausreichend Nahrung gab noch Wasser, weil dann die eine Gruppe auszog, um die andere zu versklaven und deren Besitz zu stehlen… da waren wohl strenge Gesetze und Regelungen für unbedingten und bedingungslosen Zusammenhalt nicht nur wichtig, sondern eine Frage des Überlebens. Und so sind eben auch diese Erzählungen entstanden, diese Bücher, diese heiligen…

Erst in den Räumen der italienischen und niederländischen Meister kommt wieder Leben in die Gruppe – die Adam & Eva-Versionen kennen sie auch, ein bisschen weniger nackt halt… Kicher… das Konzept von Paradies allerdings ist ein komplett Anderes. Ich erspare uns die entsprechende Diskussion über Jungfrauen und männlicher Angst vor Kritik und Vergleich und so weiter, beschränke mich auf Kunstgeschichtliches (so viel ich halt dazu weiß) und das Lästern über die Financiers auf Kosten der armen Bevölkerung und so.

Beim Verlassen des Gebäudes eskortiert mich der wortgewandteste Knabe aus der syrischen Fraktion, um mir ein wenig hilflos zu gestehen, dass er nur auszugsweise seiner Mutter vom Bericht im Museum erzählen wird können. Sie sei nämlich sehr gläubig, kenne sich gut mit dem Koran aus und wisse daher genau über die Welt Bescheid. „Really?“ frage ich ein wenig argwöhnisch. Und er in bestem Englisch: „Mmmmhjaa.“ Gefolgt von der Schlussfolgerung, dass daher auch die Beschriftung in der ägyptischen Sammlung falsch wäre, weil es nämlich die Menschheit noch gar nicht so lange gibt, weil doch im Koran…

Und ich weiß, dass wir nicht nur schleunigst in Naturhistorische Museum gehen müssen – Stichwort Darwin! – sondern ich dringendst meine ach so wunderbaren Toleranzgrenzen zart zu dehnen habe, weil mein Bildungsauftrag wohl eher mit lebenslangem Lernen zu definieren ist. Und weil ein veritabler Heiterkeitsausbruch beleidigend interpretiert werden könnte, murmle ich nur ein kaum hörbares „Madonna!“, woraufhin mich meine Kollegin angrinst und mit einem glücklichen „Also doch!“ kommentiert. Begleitet von heftigem Kopfschütteln schaffe ich nur noch ein inbrünstiges: „Göttin sei Dank, bin ich ja Atheistin!“ Woraufhin sie nur einen vielsagenden Blick samt Augen verdrehen in die Runde schickt. Und mir der syrische Missionar postwendend im Vertrauen mitteilt, dass Atheismus in Syrien doch als Geisteskrankheit gilt.
Fein, dann bin ich wenigstens im Leo…Pax vobiscum.

post scriptum:
Heute, fast drei Jahre danach, schaut die Sache anders aus… nicht nur, weil wir längst in Deutsch diskutieren (und auch streiten!), sondern weil die Burschen teilweise mit Studium oder einer Ausbildung begonnen haben und sich ein „zurück“ in ihre Herkunftsgesellschaft gar nicht mehr vorstellen können. Ihr Glaube ist „da“, aber längst keine Transmission-Konstante mehr; meinen „von mir aus glaub an Darth Vader“-Vergleich hassen sie allerdings immer noch.