Umständlich bringe ich das Rad in Position, bevor ich mich schweren Herzens zur Umfahrung der florentinischen Altstadt entscheide. Zuerst einmal muss ich mich an beide Satteltaschen gewöhnen, die meinen, laut Bauart, eigentlich Renner zu einem getarnten Rundreise-HybridRad machen [möglich dank Ausbau durch Rad-Wunderwuzzi Thomas Kaider aka Kleine Fahrradwerkstatt am Wiener Yppenplatz]. Bisher hatte das Fassungsvermögen der Sattelstütztasche vulgo Arschrakete für meine maximal 14tägigen Radtouren gereicht…

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Diesmal jedoch habe ich gemischte Ausrüstung für die geplanten „work-bike-life“-Wochen in Sizilien dabei, was gesteigerte Balance-Fähigkeiten fordert. Gleich einer Rad-Hummel mit versetztem Schwerpunkt taumle ich durch den morgendlichen Stadtverkehr von Florenz, volle Konzentration auf Fahrverhalten und Straßenbelag. Hektische Ungeduld kriecht zwischen angespannten Schultermuskeln hoch zum Nacken, die Stimme im Ohr gibt mir Zeitversetzt die Richtung vor. Falsch eingereiht, zu spät abgebogen, „Sie haben die Tour verlassen, werfen Sie einen Blick auf die Karte…“, ich drehe zwei Runden im Kreisverkehr. Entnervt und die Navigationsbefehle ignorierend, orientiere ich mich schließlich offline an den blauen Richtungspfeilen, pflüge wenig später durch gesichtslose Vorstadt, fahre entlang tümpelndem Algenwasser und grellen Einkaufstempeln für graugesichtiges FrustShopping. Florenz mutet in diesem Winkel so reizend an wie Wien am Verteilerkreis Favoriten. Aber hier wie dort existiert immerhin eine nagelneue Radstraße, diese bringt mich stadtauswärts an einen Kanal, mündet schließlich in einem holprigen Schotterweg… finito für Rennradreifen. 
Erst ein beherzter Abkürzer durch den zugemüllten Grünstreifen, dann zurück auf einer Nebenstraße reihe ich mich zum Abbiegen Richtung Livorno ein. Wenige Kilometer später ertönt plötzlich aus dem Off: „Sie sind zurück auf der Tour…“.
Die Sonne flutet die brettlebene Straße mit sanftem Licht, mein Grant verfliegt, das Herz wird leichter, motiviert trete ich in die Pedale – bis nach wenigen hundert Metern plötzlich die Anweisung zum Abbiegen ertönt. Ich denk mir nix dabei (DIE Einleitung für eine Vielzahl meiner Lebenskapitel!), obwohl das Bauchgefühl eh schon naaaaahhhhh!!! brüllt. Was ich geflissentlich überhöre (Verweis auf vorigen Klammertext), und radle ambitioniert die kleine Anhöhe hinauf.
Long story short: Das folgende Rauf-runter meistere ich dank guter Grundkondition und trotz hinderlicher Gepäck-Schwerpunktverlagerung in meditativer Selbstgeißelung im inneren Monolog, bestehend aus vielen ***wörtern.  Letztere konzentriert beim 19Prozent-Anstieg, den ich per Schiebe-Wanderung zurücklegen muss, nur schwer Halt findend mit den Radschuhen auf den steilen Straßenabschnitten. Idiotischerweise zählt für mich in diesen Momenten vor allem eines: Na wenigstens sieht mich niemand bei dieser Niederlage in der Bergwertung! Gleichermaßen verschämt wie ehrgeizig schwinge ich mich bei nächster Gelegenheit in den Sattel, gerade rechtzeitig, um in der letzten Biegung der Dorfstraße von zwei Bauarbeitern beklatscht und mit lauten „Brava!“-Rufen angefeuert zu werden. Freudiges Grinsen meinerseits…
Von September-milde schaltet die Mittagssonne um auf Spätsommer-brennend und ich – wieder in der Ebene – einen Gang höher, um die geplante Streckenhalbzeit im Soll zu halten. Bis Livorno werde ich keinen Neben- sondern nur asphaltierten Hauptstraßen folgen, wo in den aufgereihten Durchfahrt-Dörfern gut sortierte Café-Bäckereien zu finden sind. Meine Lust auf staubtrockene Riegel aus der Trikottasche ist wie immer enden wollend.
Mittagspause. Mein Rad lehnt an einer Verkehrstafel, ich sitze auf den Stufen zum Nebeneingang einer winzigen Panificio unmittelbar an der Straße. Vor meinen Zehenspitzen wird gebremst und beschleunigt, ich mümmle an einem frischen XL-Cornetto und genieße den Espresso-Kick. Dabei denke ich an meinen großen-Bruder-den-ich-nie-hatte-Freund Janos, der mir den Auftrag mit auf die Reise gegeben hat, nur grausliche Bilder zu schicken, um seine schwelende Italien-Sehnsucht nicht anzuheizen: „Hier bist du safe, Janos! Ich sitze inmitten von ganz viel Gegend bar jeglicher Landschaft, vergleichbar mit einer Route ab Simmeringer Haide via St.Pölten-Süd nach Amstetten… so schirch ist es da!“ 
Apropos keine Fotos schießen. Das Einzige, was in diesem Moment schießt, ist die Erinnerung, der Gedanke daran, dass meine vorsorglich gekaufte Powerbank immer noch daheim in der Wiener Steckdose lädt, derweil der kümmerliche Handyakku-Balken hier in der toskanischen Abseite ein demnächst Power-less Phone ankündigt. Ich hole tief Luft, denn für panische Flachatmung ist jetzt keine Zeit. Auch nicht für Schimpftiraden, es heißt Energie sparen auf allen Ebenen.
Seufzend die verlockenden Wegweiser „Pisa“ (aaahhh, wie pittoresk!) oder „Lucca“ (mei, so wunderschön!) ignorierend, bleibe ich auf Kurs, passiere die Hässlichkeit vermüllter Gewerbezonen und trete gegen windige Eintönigkeit der zunehmend Abwechslung-armen Schilfstreifen an. Endlich säumen diverse Schilder in unterschiedlichen Farben und Größen das Einzugsgebiet von Livorno; jene, die mit „centro“ locken, meide ich. Trotz gutem Zeitpolster gilt meine Konzentration allen Schiffe-Piktogrammen, den Schildern „traghetto, Ferrie…“ besser dort in der Hafengegend warten, als im letzten Moment auf die Fähre sprinten müssen, mit hektischen Leihwagen-Pilot·innen um Pole Position kämpfend, argumentiert meine Vernunft. Sicherheitshalber aktiviere ich wieder meinen digitalen Pfadfinder und logge als Ziel jene Ablegestelle ein, die auf der Grimaldi-Lines-invoice als Fährhafen vermerkt ist. „Kann ja bitte ned so schwer sein!“ denk ich mir in einem Anflug militanter Naivität. Die Warnungen beider Radtour-Apps „überprüfen Sie nochmals die Adresse“ hätte ich als verräterisches Omen, zumindest als nützlichen Hinweis interpretieren können.

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Eine halbe Stunde später mäandere ich zwischen überdimensionierten Sattelschleppern, in tiefen Fahrrillen und über Eisenbahnschienen auf der Suche nach der Ideallinie, vor allem meiner Zieladresse. Gegliedert wird das chaotische Bild durch unterschiedlich bunte Container-Haufen, so als hätte ein Riesenkind im achtlosen Spiel alle Bauklötze verloren. Verloren? So fühle ich mich plötzlich auch. In den Schatten eines LKW geflüchtet, stiere ich geraume Zeit auf’s Display, werde nicht und nicht schlau aus den widersprüchlichen Informationen, die mein Gerät ausspuckt: Die Kartenanzeige lässt mutmaßen, dass der Fährhafen weniger als einen Kilometer „links“, also westlich meines Standorts liegt, die Stimme im Ohr jedoch beharrt darauf, dass ich mein Ziel bereits erreicht hätte. Spöttisch meldet der Akku noch fünf Prozent Leistung.
Basta! Entschlossen schalte ich um auf analoge Informationen, aktiviere meine Sensoren Hausverstand plus Instinkt. Sonnenstand-Uhrzeit-Kombi hilft meiner Orientierung in dieser Industriezone nicht auf die Sprünge, ich entscheide mich für Energie-sparendes nach-dem-Weg-fragen und verfolge einen blinkenden LKW, bis dieser endlich abseits eines Container-Stapels hält. Ich schreie ein beherztes „you speak English?!“ dem erstaunten Chauffeur entgegen, der eben aus dem Cockpit kraxeln will. Amüsiert mustert er mich und Rad. Der Frage, ob ich denn im Gelände von Livorno’s Haupthafen mitsamt Fährverkehr wäre, schieße ich ein „isn’t it?“ nach. 
„Yes, but no,“ lautet die Antwort, begleitet von der Aufforderung, die Stufen zur geöffneten Fahrertür hinaufzuklettern. Ich klammere mich am Lenkrad fest, während mein Blick der ausladenden Armbewegung folgt, um an der Spitze seines ausgestreckten Zeigefingers eine mächtige Fähre der „Grimaldi Lines“ zu entdecken. Meine Fähre. Da. So weit drüben. Um dorthin zu gelangen, müsse ich nur unter der Autobahnbrücke durch, auf dem parallelen Zubringer rund zwei Kilometer Richtung Livorno Stadt und beim dortigen Autobahnkreuz… 
Eh logisch, dass ein Lastwagenfahrer Distanz als LKW-Route denkt. Genauso logisch, dass diese nicht deckungsgleich mit Radstraße ist. Ich schüttle den Kopf, er grinst und meint, dass es nur diese eine Verbindung zu eben diesem Fährhafen gäbe: „Dead end?“ Von wegen.
Im zweiten Anlauf via schmalere Wege komme ich lediglich bis zum benachbarten Containerschiff-Hafen. Von dort aus starte ich Versuch Nummer drei auf einem Begleitweg zur Stadtautobahn, bis dieser in einem Güterwege-Knäuel endet. Gleichermaßen wie meine Vernunftbegabung… 
Angetrieben von einer Mischung aus trotziger Wut und sturem „aufgeben tut man nur einen Brief!“ hetze ich zurück zur Schnellstraße-Weggabelung, reiße die Packtaschen runter, Rad über die Leitschienen gewuchtet, mich selbst hinterher wenig elegant rübergeseufzt, Packtaschen rauf und los. Beherzt den äußerst rechten Rand des Pannenstreifens entlang strampelnd, erblicke ich endlich im XL-Schilderwirrwarr der autostrada jenen Wegweiser, der mir eine Ankunft im richtigen Fährhafen verheißt. Scheuklappenblick und hoch gezogene Schultern, stoisch sämtliche Hupsignale ignorierend schwinge ich mich die Ausfahrt runter und biege auf den dreispurigen Zubringer ein, der offensichtlich sämtliche Häfen mit sämtlichen Autobahnen rund um Livorno verbindet. Hoch konzentriert versuche ich exakt auf der weißen Straßenbegrenzungslinie zu bleiben, fahre nur Ausweichmanöver zwischen Scherben, leeren Flaschen, Müll; knapp neben meinem rechten Ellbogen zischt das glänzende Silber der Leitschienen.

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Endlich. 
„Traghetto/ ferrie“ nur noch 800m voraus, ich leg mich vorsichtig in die Kurve, rolle die Ausfahrt runter; keine zehn Minuten später treibe ich schon im Kreuz-und-Quer des Abfertigungspulks zur Fähre. Von wegen Schwarmintelligenz! 
Hurtig fahre ich aus dem Gewurle der Fahrzeuge bis zum Fußgängerbereich vor, rasch bin ich aus dem Sattel und geselle mich zu den Passagieren, die ein Autobus ausspuckt. Kaum eingereiht, kommt ein Warnwestenträger auf mich zu, um mir zu erklären, dass ich hier falsch wäre und auf dem Parkplatz warten müsse. Ich protestiere, verweise darauf, dass es dort weder Rad-Spur noch einen offiziellen Einpark-Helfer für nichtmotorisierte Zweiräder gäbe. Ein Typ mit Kappe und wichtigem Blick wird herbeigerufen, er kontrolliert mein Ticket. Nach missmutigem Blick auf Rad und Packtaschen-Geschwulst geleitet er mich vorbei an allen Wartenden und übergibt mich einem noch wichtigeren Oberkontrolleur. Wieder Ticket- plus Passkontrolle, nochmals ungläubiger Blick auf Gefährt und Ausrüstung bis schulterzuckend das Absperrband geöffnet wird und ein anderer Warnweste-Mann für mich zuständig erklärt wird. Der nächste ratlose Augenaufschlag, Ticket ist jetzt wurscht, dafür soll ich ihm samt Rad in den weit aufgerissenen Schlund der Fähre folgen. Kaum an Bord stampert uns ein Ober-Einweiser wild gestikulierend von der Einfahrtspur weg, zwischen den beiden entwickelt sich eine hitzige No!no!hääähhh?-no!-Diskussion, ein schriller Pfiff aus dem Schiffsbauch, das Gebrüll verlagert sich auf eine dritte Person. Rasch werde ich dazu angehalten, der Stimme aus dem Hintergrund zu folgen und das beladene Rad über eine Schwelle zu hieven. Drei Männer schauen mir dabei zu, wie ich nach Halt und Ausweg suche, um durch die Luke in einen schmalen Gang zu gelangen. Eine Tür zu einem Maschinenraum wird aufgestoßen, drinnen ein freundlich lächelnder Mensch, der mich auffordert, die Packtaschen abzumontieren, weil mein Rad nämlich hier abgestellt wird. 
„Na sicher ned!“ versteht er ganz sicher ned, beschwichtigt mich trotzdem sofort, indem er mir eine kleine Nische zeigt, vor die er einen Arbeitstisch rückt und mir mit einem überzeugenden Fingerzeig auf seine Brust zu verstehen gibt, dass er aufpassen wird.
Handschlag, „grazie, a domani!“. 
Mir fehlt einfach die Kraft zum Widerspruch. Und ich muss auf’s Klo, sehne mich nach einem Kaffee, will mich in Ruhe einfach nur hinsetzen. Ich schultere die Packtaschen und klettere die steilen Treppen zum Passagierbereich hinauf, richte mich auf meinem „Schlafsessel“ ein. Hinter mir tröpfeln andere Mitreisende auf das Zwischendeck, die eilig Plätze reservieren und Tische besetzen. Draußen beendet ein Putztrupp seine Arbeit… Tief beuge ich mich über das Waschbecken und genieße das kalte Wasser auf meinen heißen Wangen. „Auf geht’s!“ lächle ich mir im Spiegel zu, pure Lebensfreude blitzt in meinen Augen. 
Ich spüre das muntere Stampfen der Motoren, die Fähre zieht ungeduldig an den Leinen, das Meer streckt seine Sehnsuchtsfinger aus.

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