Der Wäscheständer ist gepflückt, ein ungläubiger Blick vom Balkon hinunter zur verschlossenen Tür der Bäckerei… den Gedanken an „coffee to go“ muss ich gehen lassen, seufzend verstaue ich meine Utensilien auf dem Rad. Koffein-frei und mit nüchternem Magen verlasse ich Szombathely, in der Annahme, dass es schon sehr bald irgendwo entlang der Strecke eine Möglichkeit zur Frühstückspause geben wird. Die Neo-Wienerin in mir mit 7-Tage-die-Woche-geöffneten Multi-Ethno-Shops im näheren Wohnumfeld daheim ist davon tief überzeugt. Vergessen oder einfach nur erfolgreich verdrängt, habe ich wohl den früheren Titel meiner Biographie: „Provinz ist, wo ich bin“.
Beim Radeln durch viel Gegend mit verlassen wirkenden Haufendörfern bar jeglicher Infrastruktur tröpfelt zögerlich Erinnerung an Sonntag am Land ins Gemüt: Eine Dorfszenerie wie nach der Neutronenbombe, Belebung lediglich in kurzem Zeitfenster zur 9er-Mess'. Kaum gedacht, streben auch schon adrett gekleidete Menschen auf schmalem Pflaster-Trottoir sternförmig der Kirche zu, allesamt wie Kompars:innen einer „Mad-Man“-Episode gekleidet, mit festem Griff das Goldkant-Gebetsbuch in der Hand. Mich fröstelt, nichts wie weg hier. Rumpelnd geht es über die desolate Landstraße…
…und mit einem Mal: Laufruhe, offenbar sind wir – wo war hier die Grenze? – auf österreichischer Seite unterwegs, rollen wenig später in Bildein auf den Dorfplatz zu. Beim Näherkommen entdecke ich eine kleine Installation „Eiserner Vorhang“, daneben spannt sich ein Wigwam-Dach über einen flachen Bau, der sich als Museum entpuppt (Geschichte-n-Haus, siehe Tipp dazu im "Gemischter Absatz", Anhang). Aber erstens sind wir viel zu früh dran, zweitens bin ich längst auf Koffein-Entzug, der meine Wahrnehmung auf selektive einschränkt, sodass ich nur noch weit am anderen Ende der Straße ein Werbeschild als Hinweis auf Konditorei ausnehmen kann. Mein Zielsprint dorthin ist ein kurzer, mein Gesicht ein langes, als mir das Öffnungszeiten-Türschild verrät, dass ich noch eine Stunde sabbernd auf Kaffee-Erlösung warten müsste, wenn ich hier warten wollte… mit Blick auf die Klingel, denke ich so bei mir, ob die wohl mit sich reden lassen, wenn ich das Doppelte…?
Rad-Buddy Walter hingegen meint, dass auch meine Welt in Ordnung wäre, wenn wir einfach „zügig“ nach Szentgotthard fahren und eben dort eine längere Pause einlegen. Leichtfertig fügt er hinzu: „Dort kriegst auch deinen Kaffee!“ In Gedanken werfe ich mich schreiend gegen die Tür, reiße hysterisch alle Pelargonien aus den Blumenkistln und bespucke die Katze, die sich eben neugierig zwischen den Zaunlatten durchzwängt. Im richtigen Leben brumme ich ein finsteres „eh!“, schwinge mich auf's Rad und trete vorne weg, noch rasch ein mahnendes „avanti!“ Richtung Peloton rufend. Derweil ich einen Energieriegel mümmle, höre ich lautes Rufen hinter mir und kehre wieder um, um beim Fotoshooting für einen digitalen Gruß aus seiner Heimat an unseren kranken Freund dabei zu sein. Mein Gscheitln „wir sind noch zu weit nördlich!“ verhallt, der Sheldon-eske Nachsatz beginnend mit „wisst ihr eigentlich, dass ein winziges Burgenland-Eck erst 1923 Teil Österreichs wurde…“ erntet erstauntes Augenbrauen-Heben. Schade, dass Martin nicht mitfahren konnte – ihm ist dieses historische Detailwissen zu Luising im Südburgenland schließlich zu verdanken!
Ich streune weiter durch vergessenes Grenzland, holpere über Dorfstraßen, für deren Zustand jeder Bürgermeister im Weinviertel geteert und gefedert werden würde, quere winzige Ortschaften, Resignation in Menschengestalt begegnend. Ernüchternd für mich ist die Fahrt auf nagelneuer Radbrücke über die riesige Baustelle der Schnellstraßenverbindung nach Heiligenkreuz (deren Bau ich mit bestreikte, damals vor fünfzehn Jahren auch dabei ein gewisser Werner Kogler). Dafür fahren wir entlang der Raaba weiter und endlich auch ein bissl bergauf, was nur bedeuten kann, dass es nimmer weit zum Kaffee in St.Gotthard ist!
Das schicke Salettl mitten am Hauptplatz von Szentgotthard steuere ich eben schon an, als mich der querende Kellner von oben bis unten mustert, dabei verächtlich die Mundwinkel nach unten zieht. „Na gut, dann ned!“ sag ich etwas lauter als beabsichtigt und leite spontan um ins gegenüberliegende Café – wo wir prompt auf das Freundlichste begrüßt werden. Die Dringlichkeit meiner Bestellung am Hulk'schen Blick sofort erkennend, spurtet der Juniorchef schon zur Kaffeemaschine, derweil sich das radelnde Jungvolk noch in der Speisekarte vertieft. Nach doppelt Doppeltem mit Milch, Schinken und Eierspeis-Brot dazu setzt bei mir sukzessive die Rückverwandlung in eine liebreizende Reisegefährtin ein.
Die einen knotzen pausierend unter einem Baum, ich dreh noch eine kleine Runde in der Stadt und setze mich später zum schreibend Beobachten auf ein Kirchenbankerl. Es gibt Orte, in denen fühle ich mich wie eine Zeitreisende – Szentgotthard ist so einer, von dem ich nur noch „zurück“ möchte.
Dementsprechend froh mache ich mich auf zur Weiterfahrt, abschnittsweise wieder im Alleingang Richtung Slowenien. Das letzte Eckerl Ungarn liest sich wie ein Wegweiser in Island zum Koboldfestival, ist aber der Grenzort, durch den man hintume nach Slowenien auffi kommt: Felsözsölnök. Nach der Ortsdurchfahrt ist Fahrverbot für alles mögliche, also gönne ich mir ein entspanntes Tratscherl im Nebeneinander-Fahren, als mich ein wild hupender Autobus-Lenker knappest schneidend überholt und mir mittels Handzeichen eine geringe Denkfähigkeit unterstellt. Gerade als ich ein „na, warte!“ brülle, mich mit wenig freundlichem Response auf die doppelte Größe aufplustere und dem Bus hinterher eile, passiere ich ein Hinweisschild „Bus-Umkehrschleife“ und erkenne in der Sekunde meinen Irrtum zu "Fahrverbot-Ausnahme". Mit vollem Tempo sprinte ich auf den jungen Fahrer zu (der eben den Bus abstellt), er reißt die Augen weit auf, als er aussteigt, ich knapp vor ihm zum Stehen komme.
Und mich entschuldige für mein Verhalten; erst auf Deutsch, er schaut mich entgeistert an, dann wiederhole ich das Ganze in Englisch, und ende lächelnd mit einem „Ok?“. Plötzlich kommt auch von ihm ein „Sorry!“, wir nicken einander zu, ich mache mich mit einem bestimmten „passt!“ wieder auf den Weg.
Erschrockene Blicke ernte ich auch von der Heim-Mannschaft, als ich mit breitem Grinsen und „na, geht doch!“ aufschließe; Erleichterung, weil ich meinen Ausritt mit „war mein Fehler!“ kommentiere: „Hab mich für mein Benehmen entschuldigt.“ Eine Übung, die heutzutage eigentlich viel zu wenig trainiert wird.
Mein nun frei gesetztes Adrenalin wandle ich gleich um in Körperenergie, setze mich ab in der zwar überschaubaren, abschnittsweise dann doch auch knackigen Bergauffahrt. Oder empfinde ich das nur so, weil ich die vergangenen Tagen in einer Gegend unterwegs war, in der du dich am Mittwoch auf eine Kiste stellst, und sehen kannst, wer am Wochenende zu Besuch kommt?
Wie auch immer, ich transpiriere heftig, genieße die Abwechslung, das viele Botanik-Grün und die Aussicht von oben auf die slowenische Grenzregion.
Gemeinsam eilen wir auf kaum frequentierter Straße runter ins Slowenische und planen einen Zwischenstopp im Mini-Ort Kuzma – wo wir eigentlich auch ein Quartier finden wollen. Mit Letzterem schaut's da für uns schlecht aus – ein fixes Nest hat hier aber der saisonal ansässige Storch, der uns jetzt neugierig über die Schultern zuschaut. Wir beschließen, einfach in eine „touristischere“ Gegend weiter zu fahren, oder überhaupt gleich bis Bad Radkersburg?
Genau dort stoppen wir bissl mehr als 25km später bei der Grenzkontrolle, um gleich die Mur querend „hinüber“ nach Gornja Radgona zu radeln.
Wo wir – ich geb's ungern zu – entnervt auf Google-Auskunft zurückgreifen (müssen).
Zum einen, weil bei unserer Ankunft der Nachmittag schon aus und der Abend bereits im Begriff ist, in einen späten überzugehen… weniger umständlich: Touristeninfo geschlossen, kaum potentiell Auskunftswillige auf der Straße, der Sonntag macht seinem Ruf als Ruhetag alle Ehre. Schließlich führt uns Google-map an den Ortsrand. Wir finden in der Allerweltssiedlung erst das richtige Haus, dann die richtige Klingel und warten nach dem Läuten hoffend auf Reaktion. Endlich schlurfende Schritte, ein alter Herr grüßt, reagiert eigenartig "gar nicht", eher abweisend, als wir nach freien Zimmern fragen (später erfahren wir von seiner Schwerhörigkeit). Er müsse erst noch seine Frau fragen, er verschwindet im Hausinneren, gleich darauf eilt die Gattin auf uns zu und verkündet in bestem Deutsch, dass unsere Herbergssuche ein Ende hat. Happy-end in Gornja Radgona, „dóber večer“ bei Familie Mihalic (siehe Tipp im "Gemischten Absatz", Anhang!
Danke
Spendenkonto AT74 6000 0101 1022 2489 (Projekt BrainTrain | Verein To-do-Liste)
Gemischter Absatz
@ der-Weg-ist-das-Ziel: Route Szombathely – Gornja Radgona (Bad Radkersburg)
Szombathely – Eberau – Moschendorf – Kemestaródfa – Rabagyarmat - St. Gotthard – Felsöszölnöl – Slovenien - Kuzma (Neuhaus am Klausenbach) – Gornja Radgona (Bad Radkersburg) → ziemlich genau 114km
@ Treffpunkt „bei der Kirche“: Sitzfleisch
Rad-Ausflug ins Südburgenland geplant? Von Grenzerfahrungsweg bis hin zum Treffen mit Zeitzeuginnen im lauschigen Dorfmuseum, das hier in Bildein Geschichte(n)haus heißt – es zahlt sich aus, einen Extra-Stopp einzuplanen. (Zeit-)Geschichte zum An- und Begreifen:
http://bildein.at/kultur-und-freizeit/geschichtenhaus/
http://www.bildein.at/_uploads/_files/Infomappe.pdf
@ googln wird überschätzt: Offline-N/nutzen
Klingt komisch an dieser Stelle, ist es aber nicht: Ich geb's nur ungern zu, aber ohne Google hätten wir die „Pension Mihalic“ (https://prenocisca-mihalic-macek-mihael-mihalic-sp.business.site/ Gornja Radgona) nicht gefunden. Wunderbar geräumige Zimmer, grandioses Frühstück inklusive (Bio-Eierspeis'!).
@ fakultativ zu Hausverstand: Tipp
Lediglich die Mur trennt Bad Radkersburg (slow.: Radgona) von Gornja Radgona (dt.: Oberradkersburg, ungarisch: Felsőregede), beides im ehemaligen Herzogtum Steiermark (bis 1918), in der nunmehrigen Untersteiermark/ Štajerska gelegen. Wunderbar gestaltet ist die Verbindungsbrücke, mit integriertem Fußweg und windgeschützten Sitzgelegenheiten über der Mur, gut ausgebaut sind die Radwege auf beiden Seiten. Das Auto kann also getrost in der Garage bleiben, wenn es um den Besuch im jeweiligen „drüben“ geht – denk mit und beweg dich, tu etwas für dich, für Körper und Klima!
@ aMäuvoi Subjektives: Empirie er-fahren…
Szentgotthárd (deutsch St. Gotthard, slowenisch Monoter) ist eine aus der Zeit gefallene Grenzstadt.
Vor der überlebensgroßen Statue im Zugangsbereich zum Kirchenportal spüre ich, warum weltweit patriarchale Wüstenreligionen (vgl. Gunkl) mit allen Mitteln um Vormachtstellung und Existenzberechtigung kämpfen. Die antiquierten, Männer-zentrierten Machtstrukturen bröckeln, umso emsiger werden Retro-Ideale wechselweise als „unsere“ Tradition, Kultur oder Werte verhandelt. Frauen arbeiten zu und helfen dabei mit, wenn es um ihre eigene Unterdrückung geht. Sie halten sich mehr oder weniger freiwillig – je nach abrahamitischer Glauben-Version – an Echthaar-Perücke, Kopftuch oder Schönheits-Ideale (Selbstverletzung durch kosmetische Eingriffe, nur um den „Herren der Schöpfung“ zu gefallen?). Wo möglich, nutzen sie aber sehr wohl hart erkämpfte, sozialistische Grundrechte aus feministischem Ringen um Gleichberechtigung. Keinesfalls wollen sie selbst solche Teufelsweiber sein, sprich Pfui-Emanzen, sondern lieber richtige (?) Frauen. Also abhängig?
Das stärkt die rückwärtsgewandten Rechtsausleger-Parteien, gibt ihnen Auftrieb, weil sie mit Kapital-stützender Politik ihren (Medien-) Einfluss generieren und vorübergehend auch halten können. Wo Besitz ist, ist Macht. Und wo Besitz und Macht sind, wirken die alten, oft kirchlichen Netzwerke. Die Schäflein bleiben vereint „im Glauben“, vor allem auch im Glauben an ein Konstrukt namens „Volk“ (das es so nicht gibt, und auch nie gegeben hat).
Hier im slowenisch-ungarisch-österreichischen Dreiländereck treffen drei so genannte Volks-Parteien aufeinander. Freilich verkommt das national-ideologische Reinheitsgebot von Jansa, Orban & Kurz zum simplen Nonsens, angesichts historisch gewachsener, wenigstens zum Teil gelebter Diversität. Gemeinsam ist diesen „christlichen Abendländern“, dass langsam aber sicher das demokratische Deckenlicht ausgeht, dafür sind in schummrig-finsteren Kellern korrupte Eliten geschäftig. Trotz grassierender Amnesie (im Zeug:innenstand) behalten diese die Finger in Staatskassen, verwalten Steuertöpfe, alles mehr oder weniger diskret „Mitte-rechts“ versteht sich.
Zur Ablenkung poltert gleichgeschaltete Hofberichterstattung zum Beispiel über geplante, verfassungswidrige (!) Abschiebungen in Länder, wo längst kein Flughafenbetrieb funktioniert, ergo erst gar keine Landung möglich ist. Falls diese gelänge, würde alles Bord-Personal gemeinsam mit den Abgeschobenen als „Ungläubige“ sterben im heutigen Afghanistan. Das ist bekannt, was nicht mehr funktioniert, ist „wir haben von nichts gewusst“. Wer also ist willens, Menschen gezielt in den sicheren Tod zu schicken? Oder geht es sowieso weniger um die Durchführung als vielmehr darum, dass nur möglichst laut darüber geredet wird? Oder schlicht einfach darum, beim Produzieren von Fake-News in Übung zu bleiben? Zwegn der message-control warads…
Vergessen wir den Konjunktiv, bleiben wir dabei, was Sache ist: Angesichts des Wissens um die aktuelle Situation in Afghanistan kommt jeder Abschiebe-Bescheid aus Kurz-sichtigem Umfeld der Todesstrafe gleich (und die wurde in Österreich im Februar 1968 abgeschafft). Wem das zu polemisch ist, der kann das gezielte „Menschen-in-den-Tod-schicken“ auch als Maximum an Menschenrechtsverletzung bezeichnen – was freilich nichts am Ergebnis ändert: Drastisch oder weichgespült formuliert, bleibt ein derartiger Abschiebe-Befehl ein Gesetzesbruch nach österreichischem, nach europäischem, nach internationalem Recht.
Inwiefern ein derartiger Bescheid in letzter Konsequenz als Anstiftung zum Mord gelesen werden kann, obliegt nicht nur einer Ethikkommission. Immerhin existieren Beweise, dass bereits Abgeschobene von den Taliban gejagt und „als westlich Verseuchte bestraft“, gefoltert, verstümmelt, meist getötet werden. Diese Berichte liegen auf, die offiziellen Stellen wissen davon. Also frage ich mich: Können für die Ausstellung positiver Abschiebe-Bescheide die weisungsgebundenen Beamt:innen zur Verantwortung, somit haftbar gemacht werden? Wie willfährig wären sie dann weiterhin in ihrer Rolle als Vollstrecker:innen des politischen Willens?