Ich konzentriere mich auf meine inneren Bilder, die Abschiedsszene am Wiener Hauptbahnhof, spüre die Umarmungen auf dem Bahnsteig nach…
… erinnere die teils freu-mich-für-dich-erleichterten, teils passiert-eh-nix?-besorgten Blicke von Sohn und WienTochter, bis sie in der Filmschnitt-Einstellung sich schließender Zugabteiltüren verschwinden.
Ohne BussiBussi schicken, ohne zu winken suche ich hektisch den reservierten Radabstellplatz, stakse in meinen Radschuhen grazil wie ein Pinguin den Gang entlang, hieve die viel zu schweren Packtaschen in Schließfächer. Endlich strecke ich mich im Schlaf-Kokon eines modernen Liegewagens aus, derweil der Night-Jet mit mir durch die Dämmerung Richtung Süden eilt.
„Erinnerungen an die Zukunft?“ frage ich mich in der Sarkophag-Enge und atme Klaustrophobie-Anwandlungen gezielt weg, betrachte in Bauchlage die vorbeiziehenden Landschaftsausschnitte im winzigen Fenster. Auslöser ist vermutlich das Niederösterreich-Schild, dass ich es noch vor dem Semmering schaffe, mich in alter Trigger-Manier in PanikMomente hineinzusteigern: „Bist du komplett geistesgestört, du blöde Funsn… was soll das? Du willst Mutterseelenallein mit dem Rad durch Sizilien? Und das in deinem Alter? Was, wenn das Arbeiten-für-Bett-und-Mahlzeit nicht aufgeht? Was, wenn dir was passiert im heißen Outback von Europa, soooo weit weg von… hmmm…?“ Ein passendes Apropos zum letzten Gedankenfuzerl, ein Lagerhaus-Geschlechterturm gleitet aus den Umrissen des Bahnhof-Areals in mein Sichtfeld: „…und die Mafia!“ Die Wort-Bild-Marke in meinem Kopf bringt mich erst zum Lachen, dann zur Erkenntnis: Seit wann lasse ich mich vom „gut gemeint!“ aus meinem Umfeld irritieren, von deren Ängsten ihre Leben abseits vom Gewohnten zu entdecken? Wenn mich etwas auf diesen Single-Trip vorbereitet hat, dann meine ersten fünfzig Wanderjahre inmitten der heimatlichen „man-lügt-sich’s-schön-Gesellschaft“, wo selbstgefällige Korruptions-Erben als vermeintlich Tüchtige zur (unter)schlagenden Heimatkunde-Folklore zählen. Wofür sollten meine befreienden Alleingänge und durchgestandene Lebenskrisen inklusive Abhärtung im Verleumdungsbann und gezielter Denunzierung gut gewesen sein? Na also.
Lehrjahre dankend annehmen, im Selbstgespräch wird der Tonfall schneidend: „Und jetzt reiß dich zsamm. Was dich ned umbringt…!“ Ein trotziger Deal mit meinem zweifelnden Ich ist rasch geschlossen: Sollte mir beim Aussteigen in Florenz immer noch schummrig sein, dann ändere ich halt einfach die Richtung und fahre mit dem Rad zurück nach Norden. So what? Die rote ÖBB-Fleecedecke fest um die Schultern gezogen, lasse ich mich vertrauensvoll in einen tiefen Schlaf schaukeln.
Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich die Ziffern auf dem Handydisplay scharf zu stellen, ohne Brille quasi ein Maulwurf mit Helm. Ich mutmaße 5isch, erhasche nach einigen Verrenkungen den Blick aus dem Abteilfenster auf die Bahnsteig-Uhr. Von wegen Maulwurf! Klein Adlerauge funktioniert immer noch bestens, wenn es um größere Distanzen geht (mit ein Grund, warum ich niemanden wirklich nahe an mich heranlasse? Sanftes Seelenräuspern…).
Bologna. Definitiv auch noch ein Punkt auf meiner bucket-list, ich halte meinen Pass dem Blau-Uniformierten hin, der sich in der Türöffnung zu meinen Füßen postiert hat. Der murmelt „Austriaca“ und gibt mir nach flüchtigem Blick das Dokument retour, nickt freundlich und ich salutiere grinsend. Lachend wünscht er mir „buongiorno“, in mir stellen alle Weichen auf ADHS-Zappeln-Endorphinausschüttung: Endlich bin ich wieder ‚daheim‘ in Italien!
„Unbedingt nach Pienza fahren!“ rufe ich dem Mountainbike-Pärchen aus Wien nach, das ich im Radwaggon kennenlernte, während der Zug träge und gefühlt wie auf Zehenspitzen eine satte Stunde Verspätung generierend nach Florenz zuckelte. Sie meint noch, dass ich sehr mutig sei und unbedingt auf mich aufpassen solle, einander wünschen wir uns eine gute Weiterreise und überhaupt… eilig schieben die beiden zum Bahnsteig Regionalzüge, um einen Anschluss Richtung Toskana zu ergattern.
Ich schaue mich erst einmal in aller Ruhe in der Ankunftshalle um, atme tief das Bewusstsein „du bist jetzt in Firenze!“ ein und bündle jähes Glücksmoment in einen breiten Grinser für die Außenwelt. Mit einem innerlichen Waaaahhhhhhnsinn!-Schrei trotte ich durch hektisches Bahnhof-Gewurl hinaus ins wunderbar sanfte Sonnenlicht – und mitten hinein ins touristische Hin-und-Her am Rande der florentinischen Altstadt.
Gschwind ein Selfie an meine Kinder samt Statusbericht geschickt, dann noch ein kurzer Vergleich RadApp-Routenvorschlag versus Streckenverlauf in Google-maps: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist bei letzterem eine Gerade, sportlich ambitionierter schickt mich Komoot knapp nach Florenz ein bissl ins Hügelige. Motiviert bin ich, mein Zeitpolster mit rund sieben Stunden reicht trotz Zugverspätung immer noch bequem, um die bissl mehr als hundert Kilometer bis Livorno zu schaffen.