„Damit kommst du aus?“ Ihr Blick scannt erst mich, dann im erweiterten Winkel inklusive Bikepacking-Ausrüstung Länge mal Breite, nochmals Breite mal Länge… das Ergebnis bleibt ein Kopfschütteln, meine Nachbarin legt eine Frage nach: „Wie lange willst du wegbleiben? Zwei Wochen?“ Mit einem Nicken und schmunzelnder Gewissheit, dass alles, was nicht auf's Rad passt, schlicht keine Notwendigkeit haben wird, zwitschere ich ein „Pfiat di!“ und starte meine diesjährige Radreise: Österreich Außenrum, Süd_ 2021.
Lesson learnt
Ich erinnere meine im wahrsten Sinn des Wortes be-drückenden Rucksack-Erlebnisse bei der Tour im Vorjahr. Diesmal bin ich gscheiter, verstaue minimales Gepäckvolumen in kleiner Lenker-, funktioneller Rahmen- und professioneller Sattelstütz-Tasche. Angesichts der zu erwartenden Höhenmeter auf den kommenden tausend+ Kilometern ist das prinzipiell schlaue Rücken-Entlastung, vor allem auch eine witterungstechnisch schlaue Entscheidung, wie sich „on Tour“ bei knallender Sonne und peitschendem Regen herausstellen wird (so froh werde ich noch sein, lieber in professionelles Bikepacking-Kit investiert zu haben, anstatt in Insta-taugliches Outfit!).
Während ich an diesem Donnerstag vor Ferienbeginn aufmerksam durch die Stadt rolle, sind alle Radwege gsteckt voll mit besonders Verhaltenskreativen, die ohne Handzeichen zu geben entweder auf Hipster-VintageRädern hängend durch die Gegend torkeln oder auf dem eScooter cruisen und während ihrer Suche nach Gleichgewicht auf das Handy-Display starren…
Endlich beim Treffpunkt einbiegend sehe ich zwei vollbepackte Trekking-Räder sowie eine baff erstaunte Reisegefährtin und meinen weniger verwunderten Rad-Buddy. Ihr „Das ist alles, was du mitnimmst?“ retourniere ich mit der Gegenfrage: „Was da drin…“ ich steche mit dem Zeigefinger in die Luft, in Richtung praller Rucksäcke und quellender Satteltaschen „… ist wirklich notwendig?“
Um das folgende Frage-Antwort-Spiel kurz zu machen: Ich verzichte auf leere Kilometer im Diskurs, wissend, dass mein Rad-Buddy ohnehin jeden Alltag-Widerspruch festkrallen wird wie einen Rettungsring. Es überrascht mich also nicht, dass weder Reserve-Jausenwurst (also kein Spezial-Super-Energyfood!) noch Besteck (!) zurückbleiben, sondern mit uns die Reise antreten, die vorbeiführen wird an vielen (Super-) Märkten, die es doch auch „im Ausland“ schon seit geraumer Zeit gibt… anders formuliert (Erinnerungen ans Vorjahr werden wach): Ach ja, bist du wieder dabei, oh Beratungsresistenz, du nervige Bitch!
Wir eilen ostwärts raus aus der Stadt, runter von der Donauinsel, lassen uns von der erfrischenden Kühle im Auwald umarmen. Ich tauche ein ins facettenreiche Grün und atme freudig dieses Gefühl von Befreiung, das tief in mir mit dem Radfahren verlinkt ist.
Das moderate Reisetempo („aufwärmen!“) erlaubt es, auf Kreuchen & Fleuchen am Wegrand und über den Baumkronen zu achten. Die schnurgerade Route Richtung Hainburg verzeiht geringe Konzentration, wenn es zu entdecken, genauer hinzuschauen oder zu hören gilt. Erstaunt bin ich über die große Vielfalt an Wildkräutern (von Augentrost bis Zinnkraut), freue mich über huschende Ziesel und flitzende Feldmaus, horche auf den spitzen Schrei der Falken und die alarmierende Hysterie eines Fasans, beobachte kreisende Bussarde und Reiher im Landeanflug.
In Stopfenreuth muss Zeit sein für eine Foto-Pause – winzig kleine Pferdchen kauen eifrig an Halmen, entzückte Kommentare („die sind ja noch kleiner als Ponys!“) und verzücktes Publikum hinter dem Zaun ignorierend. Ein kleinwüchsiger Mensch in neonbunter Sporthose keucht die Straße entlang, an mir vorbei; wenig höflich starre ich gebannt auf seinen nackten Oberkörper und dessen missing link-ähnliche Behaarung (eh erst, als er mir schon den Rücken zukehrt hat).
„Was kann das für eine Rasse sein?“ höre ich vom Pferde-Fan, schlußfolgere trocken aufgrund letzter Beobachtung: „Wohl eine Auenland-typische. Soll ich dem Hobbit hinterher und fragen…?“ Die Herr-der-Ringe-Unkundige runzelt die Stirn ob meiner unsensiblen Antwort. Ich murmle eine kurze Erklärung, dass ich wenig Talent für political correctness habe, rufe Rad-Buddy W ein fröhliches „komm Bilbo, das Abenteuer wartet!“ zu.
Frohen Mutes machen wir uns auf in Richtung Schloß Hof.
Während der Fahrt dorthin suche ich die körpereigene Festplatte nach Daten zu Prinz Eugen ab, ersetze „Türkenbelagerung“ mit der historisch korrekten Bezeichnung Kampf von Kuruzen (Habsburg-widerständische, meist protestantische Ungarn) in Allianz mit groß-osmanischen Heerscharen. Mit deren Bekämpfung und letztendlicher Abwehr legte der durchtriebene Heerführer als „edler Ritter“ den Grundstein zu späterem Reichtum. Er setzte sich selbst einige Denkmäler und schrieb mit strategischer Schläue schon zu Lebzeiten am eigenen Helden-Mythos (Stichwort message control), der insbesondere im austrofaschistischen Ständestaat wieder aufgekocht wurde und gleichwohl der Heimat-konstruierenden Nazi-Propaganda dienen sollte. Prinz Eugen als barocker Metrosexueller, als Vorbild für Getriebene in narzisstischer Selbstwahrnehmung, die Minderwert-komplex um Beliebtheitswerte buhlen…? Offenbar ein zeitloses Polit-Role-Model in Türkis-farbener Patina an kupfernen Oberflächen.
Schloss Hof selbst ist wahrlich beeindruckend und lässt sich nicht einfach als Prachtbau subsumieren – es hat schon seinen Grund, warum die Gesamtanlage mit dem Belvedere, ja sogar mit Versailles verglichen wird. Wer ein besonderes Faible für Maria Theresia und das Barock-Zeitalter hat (sowie Tier-Raritäten und altes Handwerk…), dem sei ein Tagesausflug hierher empfohlen. Für das Flanieren im großzügig angelegten Schlosspark sollte auf jeden Fall Zeit bleiben (wenn man nicht gerade mit Rennrad-Clips unterwegs ist…)
Informationen sind im Tourenbuch von Julia Köstenberger „Grenzenlos Radeln 2“ zu finden, siehe dazu meinen besonderen Buch-Tipp im Anhang „Gemischter Absatz“.
An der östlichen Grundstücksgrenze fahren wir den gekennzeichneten Radweg entlang, freuen uns über eine Großfamilie an Zieseln und erreichen nach wenigen Minuten die „Brücke zur Freiheit“. Sie ist ein sehr spezieller Nicht-für-Autos-Übergang. Diese Radbrücke wurde an jener Stelle der historisch errichteten (1771, unter Maria Theresia) und bereits vor dem „Kalten Krieg“ für Jahrzehnte endgültig zerstörten Verkehrsverbindung über die March wiedererrichtet und ging 2012 in Betrieb. Dank der bogenförmigen Konstruktion bietet die Aussicht „von oben“ einen weiten Rundblick und jede Menge Foto-Motive (wichtig dabei: Umsichtige, weil mitdenkende Freizeitsportlerinnen und -sportler stellen ihre Räder nicht mitten auf der Fahrbahn ab – allen anderen sollte es verboten sein!).
Wie schon im vergangenen Jahr auch befällt mich ein mulmiges Gefühl beim Anblick der (mittlerweile museal anmutenden) Grenzbefestigungen und Bunker, selbst wenn ich heute völlig unbeschwert und in aller Freiheit von hüben nach drüben radeln darf. Ich erinnere die Zeiten als Kind und Jugendliche, als ich noch mit meinen Eltern im Auto an der Grenze unterwegs war. Der Eiserne Vorhang und seine Wachttürme, die dazugehörenden Todeszonen und die immer tragischen Fluchtgeschichten hatten sich schon früh in mein Gemüt eingebrannt. Mein Papa scherzte einmal (hoffe ich wenigstens!), dass ich endlich lernen sollte, mich zu benehmen, vor allem zu parieren (also auf's Wort folgen, wie es die schwarze Pädagogik den Kriegskinder-Eltern eingebleut hatte). Wenn ich nicht endlich meinen rebellischen Charakter zügeln könne, käme ich „da rüber“, denn dort würden mir die schon „de Wadln virerichten“…
Ich starre ins Wasser der March, das unter mir eigenartig gemütlich dahinfließt. Wieviele Menschen sind hier wohl ertrunken, weil sie auf der Flucht angeschossen oder verletzt wurden? Was sind wahre Berichte, was reine Propaganda?
Auf der österreichischen Seite sehe ich einen Watvogel durch morastigen Grund staksen, auf slowakischem Gebiet erspähe ich eine Schlange in der trägen Strömung treiben. Ich befinde mich mitten auf der Brücke, also auf der so genannten Grenze.
Eine Grenze, die bis vor wenig mehr als hundert Jahren (und viele Jahrhunderte lang) gar keine war, später eine zum Staatengebilde Tschechoslowakei wurde, heute stehe ich mit einem Fuss in der Slowakei, mit dem anderen noch in Österreich ohne überhaupt nur den Pass zücken zu müssen… und mit beiden Beinen bin ich mitten in Europa. Ja, in erster Linie sehe ich mich als Europäerin, zufällig wurde ich als Österreicherin geboren.
Abrupt richte ich mich auf und sage laut über die Brücke hinweg: „Wie deppert ist es eigentlich, an eine Gültigkeit von Grenze, Nation und Heimat zu glauben! Nichts weiter als Konstruktion, reine Ablenkung und politische Polemik…“ Ein Passant, wahrscheinlich in meinem Alter, steht ein wenig weiter weg von mir, er hebt die Augenbrauen und schaut mich verdutzt ob meines Ausbruchs an. Er tippt seinen Finger fragend auf den Brustkorb.
Mit einem eifrigen „Entschuldigen Sie bitte, woher kommen Sie? Where are you from?“ gehe ich auf ihn zu, freundlich antwortet er, dass er in Bratislava wohnt, in Österreich arbeitet, nur so gelegentlich und nebenbei. Natürlich (!) spricht er Deutsch – ich kann in slowakischer Sprache nicht einmal bis zehn zählen (wenigstens „. Nach kurzem Plaudern wünschen wir einander gute Fahrt, meine Mitreisenden steuern bereits eine Sitzgruppe unterhalb der Brücke an. Wir sind nun offiziell in der Slowakei.
Grenzgänge
„Kein Mensch braucht sowas wie eine Grenze, keinem nützt die Idee einer Nation!“ Mit einer ausladenden Bewegung deute ich auf das Relikt aus Grenzverteidigungszeiten, auf den Bunker aus den 1930er Jahren, der unweit unseres Picknickplatzes im Schatten der Brücke kauert. Meine Mitreisenden säbeln am Transport-Proviant, schieben stumm einen Bissen nach, stattdessen hebe ich an zur Brandrede.
„Ein Grenzort wie Devinska Nova Ves…“ ich zeige auf die umliegenden Häuser „…,der jahrzehntelang mit dem Rücken zur Wand… das muss man sich erst einmal vorstellen, wenn hinter oder vor dir von einem Tag auf den anderen plötzlich die Welt aus ist“ Ich greif mir an die Stirn, werde eine Spur lauter: „Alles lediglich aufgrund Fehlentscheidungen durch degenerierte Herrscherfamilien und machttrunkene Religion… und sie alle glauben immer noch, dass sie was Besseres wären! Und das Denken unfähiger Polit-Zirkel ist dasselbe: Gesponsert von konzentriertem Kapital in Banken und Stiftungen wird die Bevölkerung arm gehalten, dank zweitausend Jahren funktionierendem Fundraising auf der Haben-Seite sorgt die Kirche immer noch für Höllenangst und die Aufrechterhaltung einer Herrschaft durch alte, weiße Männer.“ Ich zücke mein Messer und schneide einen Apfel schwungvoll in Spalten, starre mit finsterem Blick und rot glühenden Wangen ins Leere.
„Entschuldige meinen Ausbruch! Ich bin aktuell mit dem massiven Rechtsdrall Richtung Austrofaschismus in Türkis überfordert… soll ganz Österreich wirklich Niederösterreich werden, ein einziges Schubsystem, wo sich's einschlägige Interessengruppen richten können?“ Ich seufze, blicke meiner jungen Radgefährtin in die Augen. Über die kleine Wiese hetzt ein Hund einer Frisbee-Scheibe nach, eine junge Mutter schlendert vorbei, die dazugehörende kleine Tochter bleibt unschlüssig vor einem Klettergerüst stehen. Wir packen zusammen.
„Meine Generation hat diese Welt an die Wand gefahren, ignorante Baby-Boomer zerstören ohne Rücksicht auf Verluste unsere Umwelt, vernichten die Zukunft ihrer Enkelkinder und lügen sich ihr verantwortungsloses Verhalten auch noch schön, weil sie weder auf Amazon, SUV oder Kreuzfahrt verzichten wollen.“
Ich zurre die Tasche am Lenker fest. „Wir sind mit globaler Klima-Zerstörung konfrontiert, die sofort globale Lösungen braucht. Stattdessen reden wir von Grenzschutz und Heimat, von suspektem Nationen-Konzept, das lediglich einschlägiger Politik und korrupten Cliquen dient."
Ich atme tief durch: "Trotzdem dürfen wir diese Welt keinesfalls den Idioten überlassen!“ Sie nickt, ich lächle: „Und jetzt freue ich mich auf ein gutes Glas Wein.“ Wir fahren in den Ortskern von Devínska Nová Ves zur Pension „Helios“ – derselben Bleibe übrigens, von wo wir schon im Vorjahr zur ersten Etappe der Grenz#Erfahrungen gestartet waren.
Apropos Grenz#Erfahrungen
Über meine Plattform „BrainTrain“ laufen Vorbereitungen für ein interkulturelles Projekt zum Thema „Grenzen#erfahren | Grenz#erfahrungen“.
Wir danken für Unterstützung: Spendenkonto „Verein To-do-Liste“ AT74 6000 0101 1022 2489
Gemischter Absatz
@ der-Weg-ist-das-Ziel: Wien – Devinska Nova Ves
Abfahrt in Wien, 1. (Wiener Radwege, via Prater und Donaustadtbrücke zur) – Donauinsel_EuroVelo – Lobau – Radweg Richtung Hainburg – Stopfenreuth – Schloss Hof – Brücke der Freiheit (Slowakei) – Devnska Nov Ves
@ fakultativ zu Hausverstand: Tipp
Eigentlich überflüssig zu erwähnen, sicherheitshalber trotzdem: Lass in jedem Fall dein Rad von einem Fachmenschen checken (und zwinge Mitreisende dazu, wenn sie nicht einsichtig sind!)! Und tue das schlauerweise rechtzeitig, weil eventuelle Reparaturen ihre Zeit brauchen (Lieferzeit für Ersatzteile, Rückstau wegen Urlaub-Saison…).
Simply the Best: fahrradwerk.at/ – Die kleine Fahrradwerkstatt (Yppenplatz, 16.), Thomas Kaider.
Extrafein
@ Treffpunkt „bei der Kirche“: Sitzfleisch
Ideal für Vor- oder Nachbesprechungen in Wien (15.): Augustin (https://das-augustin.at/)
@ googln wird überschätzt: Offline-N/nutzen
Köstenberger, Julia: Grenzenlos Radeln 2 – Natur erleben, Geschichte erfahren. Die schönsten Touren zwischen Österreich und der Slowakei (Falter-Verlag, 2020) – kaufen/ bestellen beim feinen Buchhandel des Vertrauens https://radicalbookstore.com/ Libreria Utopia (15.), oder direkt
https://shop.falter.at/grenzenlos-radeln-2.html
@ aMäuvoi subjektiv: Empirie er-fahren…
…während stillen Dahinradelns auf dem schnurgeraden Damm-Radweg (Richtung Hainburg) sich einlassen auf die mannigfaltigen Facetten der Auwald-Färbung, von Wasserlinsen-Gelbgrün, dem satten Glanz der dunklen Teichrosen-Blätter bis zur Smaragd-farben schillernden Mosaikjungfer (Libelle).