Der Grafiker meines Vertrauens ist seit nahezu zwanzig Jahren nicht nur „mein“ Grafiker, sondern – frei nach Ephraim Kishon – der beste GrafikDesigner von allen (und großer Bruder-Ersatz, leidensfähiger Freund, „Peha“-Familie…). Praktischerweise in „the middle of nowhere“ beheimatet, sind so genannte Termine mit ihm (und seiner Frau, die eine großartige Künstlerin ist, mir eine leidensfähige Freundin, „Peha“-…) nicht an Uhrzeiten orientiert.

Vielmehr sind diese stundenlangen „Peha“-Treffen nach dem Modus „ja, am Freitag ist gut, da haben wir Zeit!“ organisiert; und so auch das zigste Webseite-get2gether. Gutes verspricht an besagtem Freitag auch der Wetterbericht, nämlich eine 60:40-Chance für Sonne : Wolken-ohne Nass, ergo wird mein Arbeitsweg ins Weinviertel zur Rad-Tour . Ich warte den morgendlichen Regenschauer in Wien ab, lasse mir Zeit beim Zsammpacken, damit ich nicht allzu früh in der Früh auf der Matte stehe.
Schreibzeug und sogar Reserve-Mac gibt‘s dort, das Notwendigste für unterwegs stopfe ich in meine Trikot-Taschen, fülle noch homemade Iso-Getränk in die Trinkflaschen und schwinge mich auf Pierre, vulgo mein Rennrad. Das Wunderbare an den knapp 120 Kilometern, die ich an diesem Tag runterspulen werde, ist ja, dass ich die Strecke bereits kenne (alle möglichen learning by doing-Umwege, Stichwort Au-Durchfahrt, habe ich dank meiner „Rinks-Lechts-Schwäche“ schon absolviert). Und so nehme ich mir vor, diverse Zeitfenster für Gedankenreisen zu öffnen, derweil ich mir die Wegstrecke erarbeite.

Etappe „hin“

Angeblich soll Einstein gesagt haben, dass er über die Unendlichkeit des Universums nicht genau Bescheid wüsste, wohl aber über die Dummheit des Menschen – diese sei als unendlich zu definieren. Als Beweis für diese These dient mir zum Beispiel die morgendliche/ abendliche – nomen est omen – Stoßzeit rund um und am Gürtel. Am parallel geführten Radweg fahre ich vorbei an Autos, die im stop-and-go-Modus dahin stauen, ergo den gleichen Zeitaufwand für dieselbe Strecke brauchen wie ich. Und ich sehe in den meisten CO2-Schleuder-Fahrzeugen exakt die gleiche Personenanzahl sitzen, die auch auf meinem Klimaschutz-Rad Platz findet: 1 Person, in Worten "ein Humanoid" wird transportiert.

Als Radfahrerin genieße ich allerdings nur halbfreie Fahrt, was nicht zwangsläufig mit der Ampelschaltung zu tun hat. Wie viele andere Radwege in Wien ist nämlich auch dieser Kumulationspunkt für Personen, die vom Vertrauensgrundsatz (siehe Führerschein-Prüfung!) auszunehmen sind. Beispiel: Trotz grüner Ampel passiere ich mit halber Geschwindigkeit die Kreuzungen, weil mir im Schnitt bei drei Überquerungen mindestens einmal die Vorfahrt genommen wird. Gerade als ich meine Faust zurückziehe, die ich eigentlich im Vorbeifahren auf das SUV-Heck donnern lassen wollte, erinnere ich mich an die bevorstehende Erholung auf der Fahrt entlang der Donau. Meine Und-ich-hab-aber-Recht-Reaktion reduziert sich auf ein „Ach, rutsch mir doch!“
Unweit der U-Bahn-Station Nußdorfer Straße spaziert ein behäbiger Bursche mitten auf dem Radweg in meine Richtung. Von Weitem erkenne ich schon, dass Aufmerksamkeit und Blick hypnotisch auf das Smartphone geheftet sind, der Restkörper pflügt steuerlos dahin. Ich pfeife. Keine Reaktion. Ein kurzes „Hey!“ lässt den Fußgänger zusammenzucken, er schaut auf, seine Beine bewegen sich weiter, hinter ihm tauchen zwei Radfahrer auf, sie überholen, ich lege eine Vollbremsung hin, während sein zu-Fuß-Bremsweg (bedingt durch verkürzte Reaktionszeit mal Schwungmasse) ein erstaunlich langer ist. Um ein Haar rennt er mir auch noch direkt ins Vorderrad, ich werfe mich schützend über den Lenker und strecke ihm abwehrend eine Hand entgegen, „Jessas, nicht den Pierre rammen…“.
Die Aussicht auf eine längere Tour hat mich schon zuvor milde gestimmt, so belasse ich es bei einem strengen Ordnungsruf „Gehsteig nutzen, das ist ein Radweg!“ Er schüttelt den Kopf, macht eine 90-Grad-Drehung und versenkt seine Aufmerksamkeit wieder im Virtuellen, zuvor aber meint er nur schnippisch, dass ich doch ausweichen hätte können. Die beiden Radfahrer, die ihn überholt und mehr als die Hälfte der Wegbreite in Beschlag genommen hatten, waren seiner „Aufmerksamkeit“ entgangen.

Obacht!

Der Taxler hinter‘m „Blaustern“ bleibt stur auf „meiner Seite“, ich fahre geradewegs auf ihn zu, er macht widerwillig dann doch Platz – das Spielchen kenne ich schon. Unbeeindruckt biege ich runter zur letzten Gürtelkreuzung, fahre in Schlangenlinien um die frisch ausgestreuten Glasscherben auf dem Radstreifen herum. Ich warte bei der ersten Ampel auf Grün, weiche bei der zweiten dem Fußvolk aus, das sich hier auf Radweg und Zebrastreifen breit macht, also im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich nicht hintereinander gehend, sondern nebeneinander die Straße quert; ich warte nochmals bei der dritten Ampel. „Reg dich nicht auf, so kannst wenigstens das Ausklicken internalisieren…“ rede ich mir ein und lächle positives Denken in die Welt.
Autos brausen vorbei als gäbe es kein Morgen, drängeln rauf zur Nordbrücke oder rempeln weiter stadtauswärts. Welche „Plan“-Stelle-Person ist wohl für diese Stotter-Kreuzungen verantwortlich? Ob die gemeinsam mit den Urania-Kreuzung-Verantwortlichen beim Heurigen war? Dort haben alle gemeinsam darauf gewettet, dass selbst dermaßen hirnverbrannte Straßenbau-Lösungen über Jahre von Bestand sein werden?
Ich denke mich in Zukunft-Szenarien, in denen alle Stink-Mobilen in unterirdische Tunnelsysteme verbannt und deren Abgas-Schädigung in direkte Verursacher-Prinzip-Steuern umgerechnet werden. Dieses Geld dient der Querfinanzierung von Sofort-Baumaßnahmen für eine gesunde, menschengerechte Stadt: Die Fußgänger*innen werden aus dem Untergrund geholt und dürfen endlich wieder an der Oberfläche am Karlsplatz spazieren; statt der dritten Raser-Spur wird dort eine Allee gepflanzt, die zu einem Park führt, der bis zum Schwarzenberg-Platz reicht… und ich kann auf den bike-speedlanes am Gürtel, Ring, Kai fahren, wo die dritten Spuren als Radstraßen umgewidmet, baulich getrennt zum Autoverkehr werden. Mit den Mitteln aus der Wiener Klima-Maut und einem Teil der niederösterreichischen Agrarförderung werden Bike-Highways errichtet, auf denen man Kreuzung-frei von zum Beispiel Baden, Korneuburg oder Bruck mit Rennrad oder eBike bis in die smarte City fahren kann. Chronisch Rasenden wird der Führerschein auf Lebenszeit abgenommen, das Telefonieren oder Nachrichten schreiben während der Autofahrt, Geschwindigkeitsüberschreitungen sowie rücksichtslose Überholmanöver gelten ab sofort auch als gesetzlicher Delikt namens „versuchter Totschlag“…

Watzlawick-effektiv

Ein Auto wird langsamer neben mir, ich bin „unten bei der Spittelau“ angelangt. Der Mercedes-SUV-Fahrer bleibt stehen und winkt mich freundlich lächelnd über die Straße. Ich schenke ihm ein Hutschpferd-Grinsen begleitet von „So gehört sich das, danke!“, er nickt mir milde lächelnd zu, im nächsten Moment fädle ich mich endlich auf den Donaukanal-Weg ein.
„Grummelgrummelgrummel, behalten sie ihren Hammer… auf nix ist mehr Verlass!“ gärt es in meiner inneren Trotz-Ecke. Frei übersetzt: Kaum hab ich mir maßgeschneidert alle möglichen Vorurteile zurechtgezimmert, fährt ein netter Autofahrer dagegen und bringt meine Meinungspyramide zum Einsturz.

Ich reg mich ab, indem ich zum Muskel aufwärmen im niedrigen Gang (in meiner Welt: "Kette links") bleibe und mit raschem Kurbeln in Richtung Donauinsel haxle. Eine Szene löst sich aus dem Erinnerungsspeicher, spielt im Kopfkino ab…
und ich erinnere mich an die Blitzbegegnung an einem Spätsommertag im vergangenen Jahr, Mr. Right mit BikeBuddy am Hinterrad auf der Rad-Strecke am anderen Ende der Insel. Mit höchster Kurbelumdrehung und Konzentration strampelte er in voller Fahrt an mir vorbei, angespannt darauf fokussiert, mich geflissentlich zu „über-sehen“. Meine Herzgegend wandelt heute den damaligen Grant in Milde, im selben Moment, in dem ich an seine verkrampften Gesichtszüge zurückdenke: Mit vollem Schmerz in eine Richtung, aus Gewohnheit festhalten an längst Vergangenem, nicht "auf der Rolle" aus Lust am Auspowern unterwegs, sondern unreflektiert in einer längst zu engen "quäl dich, du Sau"-Rolle funktionieren, festgefahren… Halt!
Mein Leben ist zu kurz. Ich werde mich schon noch frei strampeln, von den Gedanken und irgendwann auch von dieser Sehnsucht, sie nimmer so brennend spüren… bald. Mit jedem Kilometer schüttle ich Erinnerung und Stadt-Staub aus meinem Gemüt.

Spätestens bei der Überfahrt auf die linke Donauuferseite Höhe Klosterneuburg realisiere ich auf menschenleerer Strecke, dass mich die neue Freiheit in meinem beruflichen Tun richtig glücklich macht. Meine Work-Bike-Balance funktioniert, unterwegs in meiner Zeiteinteilung, mit meinem Rennrad Pierre – wie geil ist das denn?! Das Surren der Räder höre ich als Zustimmung, ich beuge mich vor, greife tiefer und schau einmal, dass ich ins Schwitzen komme an diesem wunderbaren Arbeitstag.