Eine Nachlese zu meinen Grenzerfahrungen | Grenze Erfahrungen im Juli 2021
Meine Gedanken spazieren mir weit voraus, plötzlich lese ich „Nie wieder Krieg!“ – einfache Plakat-Ständer auf meinem Weg zwischen den Schwestern-Städten slowenisch Radgona nach österreichisch Radkersburg. Es ist ein Hinweis auf eine Fotoausstellung direkt auf der Brücke, wo auf dem Geländer die Schwarz-Weiß-Aufnahmen platziert sind. Ortsgeschichte in Szenen aus den Anfängen des Balkankrieges, der 1991 mit der Loslösung Sloweniens (am 26. Juni) aus dem jugoslawischen Staatenbund und dem folgenden Zehn-Tage-Kampf begann. Fast auf den Tag genau ist das nun dreißig Jahre her.
Ich starre auf die Bilder, sehe Zerstörung, zerschossene Dächer, Granat-Einschlag in ein Haus, es gab Tote… und Krieg! Nur wenige Meter vor dem österreichischen Grenzübergang ein Kriegsschauplatz… surreal? Mir stockt der Atem, vergessen und verdrängt habe ich dieses Kapitel Zeitgeschichte. Plötzlich erinnere ich mich an damalige Meldungen, daran, dass auch zwei Österreichischer am Flughafen in Laibach/ Ljubljana bei einem Luftangriff getötet wurden (einer von ihnen ist der Journalist und Schauspieler Nik Vogel am 28.6.1991). Ich wandere von Foto zu Foto, betrachte zerschossene Fahrzeuge, sehe verletzte Menschen, einen quer-stehender Panzer auf der österreichischen Seite der Brücke. Mir fallen Berichte ein über Grenzverletzungen, schaue ans andere Ende der Brücke Richtung Radkersburg zur Grenz-Station. Angeblich wäre damals auch das Österreichische Bundesheer in Radkersburg in Stellung gegangen, zumindest mit einem Haufen junger Rekruten, angeblich noch alle in der Grundausbildung, und altvordere Uniformträger hätten vor möglicherweise realem Feindkontakt Reißaus genommen (wie es mir später ein Insider erzählte)… verifizierte Faktenlage?
Aber welcher Feind wäre da eigentlich „zu kontaktieren“ gewesen? Jene Gruppe, die sich eines österreichischen Grenzeckerls bemächtigen wollte, wurscht ob unter damals noch jugoslawischer oder bereits autonomer slowenischer Flagge? Wie grotesk in der Rückschau, wie tragisch für die damals Betroffenen.
Ich schlendere weiter, stoppe vor jedem Foto, lese die zweisprachigen Erklär-Schilder.
Im Held*innen-Gedenken werden Verluste kartiert, pathetisch geordnet nach „unseren Toten“, der Wahnsinn barbarischen Ausmaßes im späteren Balkankrieg findet hier keinen Platz. Trotzdem verloren in wenigen Tagen Familien Angehörige, Eltern die Kinder, Kinder ihre Väter, Mütter wurden zu Alleinerzieherinnen oder Witwen mit traumatisierten Kindern…Überlebende, Hoffnungslose, kein Auskommen mit dem Einkommen, Angst, Feindschaft statt Nachbarschaft.
Allein im slowenischen Teil des Kämpfens bis zum Waffenstillstand (4.Juli 1991) und dem endgültigen Kriegsende am 6. Juli 1991 starben in den insgesamt 72 Kampfhandlungen laut offizieller Zahlen mindestens 75 Menschen (Jugoslawien, Slowenien, international), rund 330 wurden verwundet – die Dunkelziffern freilich geben in etwa das Doppelte an.
Es gibt kein Gewinnen in einem Krieg, es gibt nur Kriegsgewinnler.
Seither sind dreißig Jahre vergangen, ein Krieg mitten „unter uns“, beim Nachbarn am Balkan, der Balkankrieg, ausgelöst durch polemisch-extravertierten Nationalismus, subkutan weitergetragen in Fortschritt-resistentem Glauben an zwingende Bewahrung diffuser Konzepte einer bestimmten Tradition, einer festgeschriebenen Kultur. Meine ganz persönliche Kulturtradition als Mutter teile ich mit Milliarden anderen Müttern auf dieser Welt, wurscht welcher Nation, Hautfarbe, mit oder ohne Religion…: Ich habe meine Kinder nicht als Kriegsbeute zur Befriedigung patriarchaler Machtansprüche geboren; ich strebe nach einem Leben in Frieden, engagiere mich für eine freie Welt ohne Hunger und Unterdrückung. Eine solche wünsche ich mir für meine Kinder, für alle Kinder. Daher sollte politische Verantwortung nur jenen erlaubt und ermöglicht werden, die das Leben von Menschen schützen und es nicht im Namen von Vaterland oder Gott-Herrscher-Religionen leichtfertig auf's Spiel setzen. Es geht um nichts weniger als um die Zukunft unserer Kinder!
Eine Zukunft fanden tausende Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien in Österreich. Nicht wenige von ihnen haben paradoxerweise eine neue Heimat in jener rückwärtsgewandten Politik gefunden, die sie und ihre Familien stigmatisiert und am meisten ausgrenzt. Othering heißt jenes Phänomen auch, das „die anderen“ versus „wir“ zur Schaffung einer Identität benötigt, als politische Strategie ist es längst in der Mitte der „Werte-Gesellschaft“ angekommen. Polemische Hetze im kleinen und großen Gratis-Format, unreflektiertes Geifern an der digitalen Bassena. Wenn es an Lebenssinn und Selbstwert mangelt, dient das „wir“ rasch als Aufstiegshilfe zur Erhöhung über „die anderen“, ob Pöbel oder Flüchtlinge. Akkordierte message control setzt auf inhaltslose Worthülsen in einer Sprache der Unmenschlichkeit, die noch vor wenigen Jahren als NaziSprech gegolten hat. Heute transportieren alternative Fakten, als Widerspruch in sich, mäßig bis kaum Talentierte in Spitzenpositionen, treiben ablenkend dazu zynisch gezielt Keile in die Gesellschaft – und nur weil wir uns daran gewöhnt haben, ist es noch lange nicht normal (um es mit den Worten von „Elements of Crime“ zu formulieren).
„Nie wieder Krieg!“ titelt diese Fotoausstellung im Sprechakt.
Ich möchte dem lieber eine Forderung nach „Ein Leben in Frieden!“ gegenüberstellen oder einfach das altbewährte „Give Peace a Chance!“. Die Abwesenheit von Krieg bedeutet noch lange keinen Frieden, solange reflexartige Kampf-Rhetorik jede pazifistische Sprache übertönt und diese martialisch niedermacht. Dabei kann ich mich gleich selbst heftig an der Nase packen und an meiner Selbstoptimierung arbeiten… denn insbesondere wenn mir wieder einmal das berühmte „Häferl übergeht“, gebe ich Dinge von mir, die ich natürlich nicht so meine… gesagt sind sie trotzdem, weil sprechen halt ohne Chance auf Radiergummi erfolgt.
Ich fühle mich ertappt, quasi im Selbst-Schach matt. Wir sprechen, wie wir denken, denn das Denken bestimmt unsere Sprache, wie wir mit und über andere, auch über uns selbst reden. Jede Form von Liebe beginnt bei der Selbstliebe (ergo ist jedes „Jessas, bin ich deppert!“ aus dem Fehlerkultur-Wortschatz zu streichen). Und jeder Friede keimt zuerst im eigenen Herzen. Theoretisch weiß ich das. Praktisch aber, wenn der SUV-Mensch partout auf den Radweg rollt, obwohl oder trotzdem er mich bereits gesehen hat, hat mein Reptilienhirn in Nullkommanix über alle anderen Areale hinweg die Kontrolle an sich gerissen (und ich höre mich unflätig den Autofahrer anbrüllen, ob denn sein Zumpferl in den Fußraum abfällt, wenn er sich auch bei einem Rad-Menschen an Nachrang-Regel hält…), aber wie gesagt: Ich arbeite daran!
In der Praxis der unsozialen Medienwelt werden im Krieg der Worte um Deutungshoheit gleich einmal Fakten-basierte Argumentationen von geifernder Hetze niedergetrampelt, Auftritte nach ihrer Wirkung analysiert, nach der besseren Performance sowieso. Scham gilt in der Politik als exotisches Relikt, wenn polemische Brandstifter die Finger im Spiel haben: Die Verrohung der Sprache ist ein rasanter Prozess, in dem eine grassierende Verrohung der Bevölkerung das Ergebnis ist (nicht nur im Straßenverkehr!).
Ich erinnere mich an Zeiten, als ich noch eitel für „unser Österreich“ einstand, also für die damals geltenden Grundwerte, als etwa noch „der“ Flüchtling per se als vulnerabel und hilfsbedürftig galt, als Mensch, der um sein Leben rennt und Schutz sucht vor Krieg, Tod, Zerstörung, Hoffnungslosigkeit. Das Leid Schutzsuchender heute wird von hochbezahlten Verwalter*innen des Staats mit Häme und rücksichtsloser Kälte kommentiert, Respekt und Menschenwürde bleiben ausgespart. Jene, die noch nie einen Finger krumm gemacht haben, um Geflüchteten zu helfen, schmücken sich in politischen Sonntagsreden mit den Leistungen derer, die sie in anderem Kontext abschätzig und bestenfalls als Gutmenschen belächeln. Aber wenn plötzlich „unser Österreich“ im Zuge von „Flüchtlingswellen“ so viel getan hat, dann sind sie mit im selben Boot, von dem sie (bei weniger passender Gelegenheiten) behaupten, dass es zu voll wäre. Nie hätte ich gedacht, dass ich je mit Christian Konrad einer Meinung sein könnte, allerdings kann ich seiner Forderung (2016) nach humanitärer Hilfe nur recht geben: „Stellen Sie sich vor, sie sitzen in einem Restaurant, das achtzig Plätze hat und ein weiterer Gast fragt, ob es für ihn eventuell noch ein Platzerl gibt. Das ist das Verhältnis von Asylsuchenden zur Gesamtbevölkerung in Österreich…“.
Schauen wir in alle Provinz-Ecken des christlichen Abendlandes, werden wir unzählige Regionen und Gemeinden finden, wo ein Gebot von „Nächstenliebe“ offensichtlich nur unter ihresgleichen gültig ist. Trotz Abwanderung und zig leer stehender Häuser ist in vielen dieser Orte kein Platz für schutzsuchende Menschen zum Beispiel für eine 4-köpfige Familie in einem 320-Seelendorf, um es mit Konrad'scher Gleichung zu verdeutlichen.
Um die große Not so vieler Menschen zu lindern, gibt es genug Ressourcen in unserer Wohlstandsgesellschaft; aber genau dieser Wohlstand ist die Crux, denn für die Gier der wenigen Wohl-alles-Habenden wird immer zu wenig da sein.
Das Recht auf Schutz, auf ein Leben ohne Hunger und Not, das Recht auf ein faires (!) Asylverfahren sind grundlegende Forderungen in der Menschenrechtskonvention. Zu deren Einhaltung hat sich das offizielle Österreich bekannt.
Wie wir heute Politiker*innen erlauben, mit Menschenrechten umzugehen, gibt nur einen Ausblick darauf, wie sie es mit unseren Bürger*innenrechten in Zukunft halten werden. Welche Grund- und Freiheitsrechte bleiben, hängt von unserer Bereitschaft ab, uns jeden Tag dafür einzusetzen:
Für ein Leben in Frieden!