Bislang haben mich meine Rennrad-Ausfahrten ins vertraute Flachland rund um Wien geführt, Jahreszeiten-unabhängig nach dem Muster „mindestens 50km-Umweg-zum-Bananensplit“, oft sind's plus-/ minus-hundert Kilometer. Soll heißen, dass ich meist ambitioniert unterwegs bin, aber letzten Endes steht der Genuss im Mittelpunkt meiner Rad-Lust.
Mit der klitzekleinen Einschränkung, dass ich „Genuss“ perspektivisch breiter zu definieren bereit bin, seit ich reingekippt bin in die lustvolle Endorphin-Ausschüttung, wenn's wirklich weh tut und der Schweiß in Bächen rinnt. Unlängst hat mich hinterrücks der Gedanke überfallen, dass ich ja eigentlich zum Bergfahren geeignet sein müsste.
Wie ich darauf komme? Der Masterarbeit-Literaturauswahl sei Dank konnte ich in seiner Biographie erfahren, dass der englische Ex-Radprofi Charly Wegelius während seiner aktiven Karriere einen natürlichen Hämatokrit-Wert von 47Prozent produzierte, was exakt dem meinigen, erst jüngst gemessenen entspricht. Völlig irrational war ich gleich einmal euphorisch mit vereinnahmendem „Charly Wegelius und ich…“ am Argumentieren, warum neben meinem Talent zur Resilienz noch eine tiefere, zähe Schicht in mir schlummert. Wegelius beschreibt sich selbst als sportliches Arbeitstier, behauptet also ein „Beisser“ gewesen zu sein (diese Bezeichnung stehle ich aus dem Gespräch mit Hans Lienhart – so charakterisiert er wiederum die wesentlichste Ausdauer-Sportler-Eigenschaft). Einebeissn können, oftmals auch müssen, ist mir nicht wirklich fremd in meiner ganz privaten Lebensrückschau; jetzt weiß ich diese Eigenschaft qua Bluttest-Prozenten (genetisch?) „angelegt“ und nicht nur milieutheoretisch im Wertekatalog verankert, quasi doppelt inkorporiert.
Lieber Stöckelschuhe als Stöckelpflaster.
Unlängst war mir einfach wieder nur nach bergauf. Betonung liegt bei „einfach“, soll heißen, ohne große Umwege oder Anfahrtszeit, also gleich einmal nach dem Frühstück hintaus raus; in meinem Fall bedeutet hintaus bergauf Richtung Neuwaldegg. Die Crux ist, dass ich mich da oben nur Wanderwege-mäßig zurechtfinde, aber sonst gar nicht auskenne und schon nach der 43er Endstation nach dem Motto „i waß zwoa ned wo i hinfohr, dafia bin i schnella durt“ unterwegs bin. [mehr dazu unter: Into the Woods.]
Ich konzentriere mich auf hektische Autofahrer*innen und darauf, nicht in die Tiefen der Straßenbahnschienen zu geraten. Je mehr ich die Stadt hinter mir lasse, umso weniger lese ich Wegweiser und fahre brav auf dem zunehmend schlechter werdenden Rumpel-die-Pumpel-Radweg weiter, einem Asphalt-Patchwork mit klaffenden Nähten. Die Principessa in mir – was heißt nochmals Erbse auf Italienisch? – übt sich längst im Echauffieren, in Gedanken schreibe ich fiese Beschwerdebriefe an die Verkehrsabteilung, als mich das Hinweisschild „MTB-Strecke“ aus den Gedanken reißt. „Braucht ka Mensch!“ denke ich grantig und freu mich, weil am Ende des Radweges plötzlich richtige Straße ist, allerdings auch Ende des Waldes und dafür wieder Anfang von Dorf. Nein, es ist noch immer Stadt, wo ich jetzt gar nicht hin will, wurscht, umdrehen, auf der Straße zurück und – ah, ein Wegweiser! - rechts rein und schon liegt sie vor mir, die Höhenstraße Richtung Kahlenberg.
Klassiker, in vielerlei Hinsicht.
Warum genau kann ich nicht wirklich sagen, aber ich trete gegen inneren Widerstand einfach weiter, weil ich nimmer viel Zeit habe und es immerhin bergauf geht, allerdings zu jenem Ziel, von dem ich weiß, dass ich es nicht mag; so als Platz, als einen Ort, wo ich mich einfach nicht gerne aufhalte.
Drum habe ich den Kahlenberg als Ausflugsziel „immer schon“ (soll heißen seit meiner Jugend, sprich seit Jahrzehnten!) gemieden, denn irgendwas da oben irritiert mich, spätestens ab der Höhe Cobenzl fange ich an, mich sehr unwohl zu fühlen, ich reagiere angespannt, rastlos, kurzatmig und eigenartig alarmiert… Schon im vergangenen Spätwinter habe ich das gespürt, als ich „auf Zuruf“ mit dem Bus rauffuhr, um auf Wien zu schauen und vielleicht ganz im Osten oder Süden schon einen nahenden Frühling zu erspähen. Stattdessen hatte es da oben mindestens zehn Grad weniger, gefühlte frostige Stimmung in den grauen Gesichtern unnahbarer, abweisend arroganter Menschen.
Und jetzt finde ich mich wieder in gleißendem Sonnenlicht auf heißem Pflaster bei meiner selbstgewählten Bergfahrt, beim Höhenstraßenrennen for one, zu einem Ziel, das mir mehr oder weniger passiert ist. Was gibt es hier wohl zu lernen, was muss ich mir da jetzt anschauen? Und warum steigt meine Aversion gegen diesen Ort mit jedem Meter, den ich zurücklege?
Mag sein, dass es an der „Nazi-Straße“ liegt, die genauso kaputt ist, wie das korrelierende Gedankengut… obwohl ich im Bröckeln der beherrschenden Landmark ja auch das Tröstliche zu lesen weiß, dass alles, was vermeintlich in ewigen Stein gemeißelt ist, letztlich nicht weniger Vergänglichkeit erfährt, wie etwa die so genannte Tradition „einer Kultur“. Zum Überleben und viel wichtiger zum guten Leben braucht es Diversität auf allen Ebenen, also braucht es logischerweise auch Kulturen, die ausreichend Platz im diversen, sich wechselseitig aktivierenden Miteinander bieten. Nur im unbeweglichen, somit unnatürlichen Nebeneinander blickdichter Parallelwelten könnte es in den jeweiligen Universen eng werden. Die einzige Konstante im Leben ist doch die Veränderung!
Die Trinkflasche vibriert in der Halterung, meine Hände umklammern den Lenker, packen viel zu fest zu, und so tun es auch wieder erwachte Erinnerungen mit meinem Herzen…
Hey, let's go all over the world!
John Fogerty hat mich vor Jahrzehnten krächzend aus dem Kassetten-Radio über die Höhenstraße begleitet, als ich in journalistischem Auftrag beim gleichnamigen Rennen unterwegs war, allerdings im Auto und schon gar nicht allein, sondern mit Mr. Right, meiner amore per sempre. Ich spüre seine Finger suchend auf meinem Oberschenkel, höre mich schimpfen, dass es gefährlich ist, auf dieser Strecke nicht beide Hände am Lenkrad zu haben, um nicht vom Weg abzukommen… und sehe, wie er mich anstrahlt, mit diesem breiten Lächeln, höre den wohltuend vertrauten Klang seiner Stimme, die immer laut wird, wenn er eigentlich um Beherrschung bemüht ist, und wie er pseudo-lakonisch anmerkt, dass das einzig Gefährliche ich sei und wir doch längst auf Abwegen unterwegs sind. Nichts scheint sich seither verändert zu haben… ich erinnere seinen Scanner-Blick aus viel zu ernsten Augen, die immer, selbst wenn er lächelt, noch traurig seufzen.
Mein Seufzer ist ein lauter, die Erinnerungen brennen in der Seele, die Sonne auf meinem Rücken. „The trick is to…“ einfach durchatmen und mit imperativem „ride!“ trete ich in die Pedale, kurble auf großem Blatt, um das Brennen in meine Oberschenkel zu lenken und das Spüren an meinen Körper zu delegieren, bis mein Wille verlässlich wie immer die Richtung vorgibt: „Make it to the bell!“.
Lieber Stöckelpflaster als Schienbein-Pflaster?
Ich gewöhne mich nicht an das Staccato der Höhenstraße, umso mehr konzentriere ich mich darauf „rund“ zu treten, lasse die Reifen erstaunlich zügig über weniger Stock aber viel Stein hämmern. Teilweise muss ich in der Mitte der Straße fahren, weil die Fahrrinnen abschnittsweise zu Fahrgräben mutieren; aber wenigstens bleibt keine Zeit mehr, Blick oder Gedanken schweifen zu lassen, denn es geht ein gutes Stück bergab.
„Bergab fahren & ich“ ist nicht nur eine Geschichte voller Missverständnisse, ist nicht nur ein Teil der Strecke, der mulmiges Gefühl erzeugt, ist nicht nur eine Konzentrationsübung. Bergab bedeutet in meiner Radwelt pure Überwindung, ist jedes Mal auf's Neue die Überlistung eines tief sitzenden Angst-Ankers, ist die Übung meinen willensgestärkten Geist über mir lästige, emotionsgeladene Körperreaktionen zu stellen. Ich rede mir zu wie einer „krankn Goaß“ (Ziege), um meinen Vater zu zitieren (der damals auf einer abschüssigen Strecke mit dem Rennrad tödlich verunglückte; im selben Alter, in dem jetzt ich bin). „Folgen Sie dem Streckenverlauf!“ sage ich leise vor mich hin, im Bemühen die Stimme einer Navi-Tussi zu imitieren; wenigstens bringt mich das zum Schmunzeln und auf andere Gedanken.Der Metapher des Lebens folgend geht’s erst bergab und dann irgendwann auch wieder bergauf – das Pflasterband schmiegt sich an den Hügel, motiviert trete ich in die Pedale, ehrgeizig schalte ich nochmals runter, um zügig hinauf zu kommen.
Gut, dass es wochentags ist und hier heroben relativ wenige Autos unterwegs sind, denke ich noch, während ich von Weitem auf der Gegenfahrbahn einen ausladenden Reisebus bemerke, der sich quasi auf Zehenspitzen um die Kurve tastet und zögerlich talwärts fährt. Kaum ist er auf der Geraden, lässt die Kombination aus abschüssigem und kurvenlosem Straßenverlauf den Bus rascher beschleunigen, als es der Autofahrer im roten Kleinwagen offenbar kalkuliert hat, nachdem er aus dem Windschatten herausgeschossen war und nun geradewegs auf mich zurast. Interessant, so im Nachhinein betrachtet, wie eine gefühlte Zeitdehnung funktioniert, denn obwohl mir nur Augenblicke zum Reagieren bleiben, erinnere ich diesen einen Moment im Plural als Momente. Vor allem als erstaunlich lange Momente, die sogar Raum für Gedankenspiele lassen: „Ah ja, so wie der Papa also… auf dem Rad abreiten zu den Ahnen!“ und gleichzeitig die Aktivierung eines Gegenfeuers wie „F***! Das kann's nicht gewesen sein!“ vor allem aber „Madonna! Das Rad geht kaputt und gehört ned amoi mir!“
Wie genau weiß ich nimmer, jedenfalls mache ich mitsamt dem Rad einen Satz zur Seite auf's Bankett – während ich noch in die aufgerissenen Augen des Autofahrers starre, der im nächsten Augenblick an mir vorbei zischt, spüre ich einen dumpfen Prall am Schienbein und rumple gleich wieder zurück auf die Fahrbahn, gerade rechtzeitig und ohne den Granit-Grenzstein direkt vor mir zu rammen. Nicht jeder Schreck ist also lähmend, stelle ich ernüchtert fest und funktioniere reibungslos, während meine Nackenmuskeln vom fixierenden nach-vorne-Blick allmählich erstarren. Ich trete unbeirrt weiter.
Pierre ist kein Haruki.
Wenig jugendfreie und noch weniger poetische Kommentare später erreiche ich den großen Parkplatz vor den Aussichtsterrassen und der Kapelle am Kahlenberg, hinter der ich zum kleinen Panorama-Rundblick abbiege. Unrund laufen die Dinge zwar öfters in meinem Alltag, diesmal aber ist es die absolut zutreffende Wortwahl, sowohl für mich als auch für das Rad – wir laufen beide unrund, wie ich beim Bremsen merke. Beim Ausklicken aus dem Pedal spüre ich meine weichen Knie und das zarte Zittern meiner Hände, als ich am Verschluss des Helms nestle. Ich schnappe Pierre, wie ich das flotte Fuji-Rennrad Modell „Roubaix“ getauft habe, lehne es ans Geländer und beginne erst jetzt mit dem Check auf Kratzer und Blessuren – am Rad, versteht sich. Auf den ersten Blick ist nix zu erkennen; und auf den zweiten und dritten bin ich wieder einmal begeistert von diesem wirklich sensationellen Bike, das mir schon so sehr ans Herz gewachsen ist, dass ich es längst personalisiert habe. Pierre ist halt einfach ein Sportsfreund auf den wirklich Verlass ist! Erleichtert zücke ich das Handy und fotografiere den rassigen „Amerikaner nicht in Paris“ in der Kulisse mit der flimmernden Stadt Wien zu unseren Füßen.
Plötzlich huscht eine Asiatin an meine Seite, lächelt mich freundlich an und gibt mir zu verstehen, dass sie mich und das Rad fotografieren möchte. Ich stehe da nicht nur im Sportgwandl, sondern ich stehe da im total verschwitzten Sportgwandl, mag nicht einmal den Radhelm auch nur eine Spur bewegen, denn dann müsste ich das klatschnasse Band an der Stirn spüren, so wie ich den feuchten Umschlag, der sich Sport-BH nennt, unter dem Radtrikot fühle. Die junge Touristin scheucht mich wieder Richtung Rad und will nun, dass ich den Lenker ins Bild drehe, als sie plötzlich aufgeregt schnatternd auf mein Schienbein deutet. „Wenigstens ist es das gesunde Bein!“ denk ich und spritze Wasser aus der Trinkflasche auf die Blutspur, die im nunmehr rötlich gefärbten Radsocken endet. Das Cut am Schienbein ist nicht weiter tragisch, das was rundherum so anschwillt, schaut weniger gustiös aus und lässt wieder einmal „fifty shades of yellow“ erwarten.
„Mein Körper ist ein Tempel!“, denke ich trotzig und erinnere eine Karte zum Thema, die ich kürzlich gesehen habe: „…ein Tempel, in dem lauter Affen herumturnen und alles anscheissen!“ mutmaße ich frustriert und murmle vor mich hin: „Muss denn immer was sein…?“. Die junge Frau schlüpft unter meiner Achsel durch und reicht mir ein Taschentuch. Ich wische den Schweiß von meiner Stirn und nicke dankend, wende ihr nun die gesunde Seite zu und lächle: „Here we go!“. Während sie im Stehen und Hocken und Knien fotografiert, kommen weitere Reisegefährtinnen und -gefährten aus der Tiefe des Hotels – ein kurzer Wortwechsel, erstaunte Blicke und plötzlich wollen auch die anderen Fotos machen. „Heast, habt's ihr keine mittelalterlichen, patscherten Frauen im Auenland, die Rennrad fahren?“ sage ich lachend zu den Asia-Hobbits (wie ich wenig politisch korrekt kleinwüchsige Menschen aus den Gegenden hinter Hindukusch und vor Honolulu zu bezeichnen pflege). Alle lächeln, alle nicken freundlich, alle haben nun verstanden, dass das seltsame Foto-Shooting genau jetzt am Ende meiner Geduld eines ist, nämlich vorbei.
Ich winke nochmals zur jungen Frau hin und nehme meine Trinkflasche vom Boden, als ich ein herzliches „arigato“ höre und ich statt „selber danke!“ ein verlegenes „you're welcome!“ zurück rufe. Zeitgleich sickert es von meiner Großhirnrinde, dass sie also doch keine Chinesin ist, sondern eine Japanerin, und ich nie und nimmer in der Lage sein werde, den Unterschied auch nur annähernd zu erkennen; ich pseudo-tolerante und immer schon Asien-rassistische Ignorantin. Als ich die Trinkflasche in die Halterung am Rad stecke, verfängt sich mein Blick in ihm, dem Logo, dem Schriftzug. Und wenn ich den Lehrstoff aus der siebten Klasse richtig erinnere, so benennt die Fachwelt meine nun unmittelbar eintretende Erkenntnis als „Aha-Erlebnis“:
„Aha!“ entschlüpft es Schulbuch-konform und ich plötzlich ganz Sherlock schlussfolgere weiter: „Die meinten ja gar nicht mich! Die sind nur so begeistert beim Fotografieren, weil da Fuji drauf steht – das ist ja ihr Berg,“ sage ich zu Pierre „Roubaix“, dem matt-schwarzen Trainingspartner aus der Fuji-Familie. Und während ich noch sinniere, warum er nicht der Bergnamen-Logik-folgend Modell Ventoux heißt, verspreche ich ihm leise, seine rassigen Flanken und die Fuji-Plakette streichelnd, dass ich niemals Haruki zu ihm sagen werde.