Eben im Café war ich noch völlig elektrisiert, in Gedanken schon bei der nächsten Rennrad-Ausfahrt, mit den Augen auf der Rapha-Webseite, meinen Warenkorb ohne Limit vollstopfen, zur leichten Daunen-Jacke noch die schwarze Trinkflasche, zwei Bücher plus Wintertrikot, ach ja die geile Regenjacke in StabiloBoss-rosa muss dazu, und die perfekte Bib-Tight sowieso… seufzend beende ich die Augenkauf-Tour, schließe mein Haben-Wollen ohne Haben-Können und belasse die heutige Beute in der Rubrik „wishlist“.

Die imaginierte Einkaufsrunde lenkt ab, speziell wenn ich eh schon auf Nadeln sitze, weil eigentlich schon in wenigen Minuten…
…ihr Kopf taucht endlich aus der Menschenmenge im Eingang zur Kaffeetränke auf und wir hetzen zum Zug. Quer über den Bahnhof-Vorplatz schicke ich sie vor, derweil ich noch gschwind meinen Helm vom Radschloss ausfädle, weil ich ihn sicherheitshalber doch auf die Tagesreise mitnehme. Denn sollte mein Bike gestohlen werden, dann ist wenigstens nicht auch noch der Helm weg, werde ich später erklären – im Moment aber bin ich wieder einmal baff ob der prähistorisch anmutenden Abstellmöglichkeiten, die im Kontrast zum modernen City-Areal des gehypten Bahnhofviertels stehen. Eine Stadtteil-Renovierung ohne speziell gesicherte, wettergeschützte Absperr-Vorrichtungen, keine kombinierten Schließfächer, wo ich meine Rad-Utensilien und Überkleidung lassen könnte? Dafür, dass ich mit jeder Radfahrt aktiven Klimaschutz-Beitrag leiste, sollte mir das Leben als City-Biker nicht noch schwerer gemacht werden. Immer wieder wundere ich mich über die angewandte Kurzsichtigkeit verantwortlicher Stadtplanung und die Lethargie der subventionsabhängigen, so genannten Interessenvertretungen.

„Fuck it, save the world!“ mit gebotener Selbstironie auf den Lippen hole ich im Laufschritt meine Freundin ein, die sinnierend oder auch eigenartig hypnotisiert vor dem Ticket-Automaten im zugigen – wie passend! – Bahnhof-Foyer erstarrt zu sein scheint. Immer wieder erstaunlich wie versiert Menschen lernen durch Social Media-Kanäle zu navigieren, aber an simplen Antupf-Kaufgeräten von Fahrkarten scheitern. Sie entschuldigt ihr patschertes Hantieren mit „never go by train!“ und fragt mich ein letztes Mal warum wir eigentlich nicht doch einen Mietwagen nehmen, was ich zum wiederholten Male mit „idiots go by cars“ und Westautobahn und parallel zum Zug und „this is Austria, not Australia“ und… niederschmettere.

Im Bordrestaurant ergattern wir zwei Sitzplätze und bestellen Frühstück – wir müssen Zeit sparen, um früher dort zu sein in der Stadt ihrer heutigen Sehnsucht: Salzburg. Ich war schon seit Jahren nimmer da, wollte eigentlich einen Zwei- besser noch Drei-Tages-Trip einplanen; und somit Zeit reservieren für die eine oder andere Ausstellung, Museen und Galerien besuchen, in Ruhe schlendern, gemütlich im Café oder kleinen Lokal abhängen. Stattdessen lasse ich mich breitschlagen zu einem Stadt-Quickie – meint in aller Frühe hin und abends wieder retour, um in wenigen Stunden alles „Wichtige“ abgehakt, aber nichts davon wirklich in vollem Genuss erlebt zu haben. Soweit der Plan der Freundin, soweit mein Zugeständnis trotzdem mitzukommen – für gewöhnlich hasse ich dieses Gschwind-gschwind bei Ausflügen, beim Reisen, beim Essen… also sowieso. Ich lasse mich gerne ein auf eine Stadt, ein Dorf, eine Region, auf eine Stimmung, ein Gefühl, auf Erinnerung… darauf, dass ich eine Beziehung herstellen kann, dass meine inneren Saiten im Takt des Ortes, der Gelegenheit zu schwingen beginnen und ich so ganz andere Seiten an der Situation entdecken kann.

Wir haben, also ich habe das falsche Ticket gekauft. Die diensthabende Schaffnerin reagiert harsch und erklärt den Unterschied zwischen Regionalzug und Express, dass wir in Letzterem mit diesem Fahrschein keine Mitfahrerlaubnis haben… und dass ich halt hätte genauer lesen sollen, denn sie kann jetzt auch nix mehr machen, verrechnet aber dann doch kulant den vollen Preis für die richtigen Tickets erst ab St.Pölten. Ich komme mir sehr blöd vor – Stichwort „sinnerfassendes Lesen“ – und fühle mich ertappt; ertappt dabei, dass ich eben nie Gebrauchsanweisungen lese, weil ich auf selbsterklärend und ned ganz deppert geboren setze, folglich auch nicht unnötig (in meiner Welt!) Zeit ins Lesen von Erklärungen investiere, die zum Beispiel mit spezieller Ticket-Nutzung einhergehen. Und derweil ich noch – grumml-grumml! – nach weiteren Argumenten, sprich Ausreden suche, warum das jetzt aber wirklich ungerecht, möglicherweise sogar „ein Marketing-Ei“ seitens der ÖBB wäre, sehe ich der Schaffnerin's Gesichtszüge entgleisen. Ihre Augen sind ungläubig auf das Ticket des Tischnachbarn geheftet, der eben noch süffisant grinsend und kaum merkbar kopfschüttelnd meinem Plädoyer gelauscht hat.
„Heut' machen's ma's ned leicht!“ stößt die Kontrolleurin in seine Richtung hervor und hält ihm angeekelt den überreichten Beleg mit zwei Fingern vor die Nase. Während ihre Lehrer-Lämpl-Attitüde den Mann urplötzlich zu aufrechter Sitzhaltung animiert, entschlüpft mir nach kurzem Blick auf die Rechnung ein belustigtes „ah, ja!“, gefolgt von unschuldigem Lächeln in sein nun knallrotes Gesicht und einem aufmunternden „Husch, husch!“ samt entsprechender Gestik, derweil ihn die Zugbegleiterin anfeuert: „Schaun's, dass da noch rauskommen!“. Aufgeschreckt schnappt er seine Habseligkeiten, krallt sich das Ticket und murmelt der Schaffnerin ein erleichtertes „Danke!“ ins Ohr, drückt sich an ihr vorbei und schon hüpft er beherzt auf den Bahnsteig hinaus ins unwirtliche St.Pölten. Gleich drauf gleitet der Zug aus der Station, die Amtshandelnde zwinkert mir zu und verdreht die Augen: „Mit'm Westbahn-Ticket im ÖBB-Zug…“.

Meine Reisegefährtin – der deutschen Sprache nicht mächtig – schaut mich verdutzt an, ich erkläre die Situation und den Umstand, dass die private Firma Westbahn sehr wohl die staatliche Infrastruktur nutzt, also all das, was auf Kosten der Allgemeinheit errichtet wurde, die Erhaltung etwa auch von dieser finanziert wird, eben stellvertretend durch die Österreichischen Bundesbahnen. Die private Firma „Westbahn“ aber gehört einem der mächtigsten Bau-Tycoons in Europa, einem Marionettenspieler der politischen Szene; einer, der sich selbst das Prädikat „liberal“ anheftet, was in diesen Kreisen offenbar nichts Anderes bedeutet, als in opportunistischer Reinkultur jeden persönlichen Vorteil auszuschlachten, ohne Rücksicht auf Verluste – meint natürlich nicht jene der steuerzahlenden Mitmenschen, die seine Tüchtigkeit erst ermöglichen.
Ich verliere mich beim Stichwort „Westbahn“ in einer Brandrede gegen neoliberale Wirtschaftswunderlichkeiten, die längst auch in Österreich willfährige Konsumentinnen und Konsumenten einer politischen Gehirnwäsche unterzogen haben: Vom unbezahlten Praktikum in Ab-Cash-Unternehmen bis zur Kredit-Finanzierung von so genanntem Studium zur Titel-Generierung an Privat-Uni oder FH, eine Art Matura-Schule 2.0 (forciert seit Schwarz-Blau I), vom Unterschreiten jeglicher Arbeitsmarkt-Standards (Stundenlohn wird zum Stunden-Hohn) bis hin zur Wahl ausgewiesener Dummköpfe in die höchsten Ämter des Staates.


Wieso möglich? Nun – immer mehr (junge) Menschen googln lieber Infos anstatt sich für Informationen zu interessieren, Bildung verkommt zu portionierten Fertig-Happen (FH?) ohne, dass ganzheitlich gesponnene Denkfäden zu einem Wissensnetz verwoben werden. Politik per se gilt als uninteressant, weil die wenigsten realisieren, dass sie mit ihrem Rückzug aus einem öffentlichen Diskurs ihre demokratischen Werkzeuge abgeben, indem sie die Deutung gesellschafts- und volkswirtschaftlicher Zusammenhänge an „die da oben“ outsourcen. Mit dem täglichen „Brot & Spiele“ via Sozial-Porno auf FB oder Instagram wird das Volk hinter'm siebten Zuckerberg gehalten und zum Verhalten angeleitet, das in blickdichte Parallelwelten katapultiert. Es gilt als zeitgemäß, als längst üblich und somit als „normal“, was hier an täglicher Angst- und Trash-Bewältigung verniedlicht wird. „Ernsthaft Zeit in Infos verschwenden, die ein Unzensuriert-FakeNews-Produzent reinklopft? Oder mir erzählen lassen, wie groß irgendein Kardashian-Arsch grad ist? Apropos: Wir haben einen Rechtsaußen-Musikanten in Österreich… keine Ahnung, was der singt, wie der ausschaut? Eigentlich wie so ein Installateur-Lehrling, der sich um's Eck beim Brunnenmarkt-Friseur die Augenbrauen tunen lässt,“ lautet meine lapidare Beschreibung, nach der ich mich gleich grosso modo bei sämtlichen Installateur-Lehrlingen mit und ohne Migrationshintergrund entschuldige! „Jedenfalls sondert dieser Chart-Kasperl auf dem Niveau des amerikanischen Trump-ltiers möglichst provokante Sprüche ab, damit nur ja alle in der Sandkiste wissen, dass er endlich sein Küberl bekommen wird.“

Meine Freundin sagt nochmals, dass sie diesen Namen noch nie gehört habe, ich entgegne, dass sie damit auch nicht wirklich was verpasst und deklamiere nochmals, wie wichtig es wäre, nicht der grassierenden Amerikanisierung anheim zu fallen.
„Was mich an Amerika stört?“ Ich spreche ein politisch inkorrektes „weiträumig kulturell degeneriert“ nicht aus, sondern argumentiere, dass das Land, das sich seit immer schon als Bollwerk von Demokratie und Freiheit vermarktet, de facto auf gigantischen Riesenlügen aufgebaut ist: „Alles fake news der Marke Hi-Storytelling, das Fakten ignoriert und stattdessen einen Mythos bedient.“
Meine Freundin haucht ein ungläubiges „What?“ woraufhin ich aufzähle, welche PR-Mogelpackung das selbsternannte „Land of The Free“ und eine vermeintliche Großartigkeit der Mutigen bei näherer Betrachtung eigentlich ist: „Die US-Gründungsgeschichte startet mit brutalem Landraub und militärisch organisierter Vertreibung der eigentlich Besitzenden, sprich der indigenen Urbevölkerung. Millionenfach abgeschlachtet wurden Männer, Frauen, Kinder, die Platz machen mussten, für den so genannten Fortschritt der weißen Gesellschaft. Ihre 'Tüchtigkeit' und ihr Erfolg fußt zum Teil im Profit aus grausamster Sklavenhaltung, die in der Hälfte des Landes ebenso normal praktiziert wurde wie es heute die Ausbeutung mittelloser Migrant*innen-Heerscharen ist – Letzteres trifft freilich auf alle so genannten modernen Gesellschaften zu.“ Wir sprechen über die jüngsten Flucht-Bewegungen auf „ihrem“ Kontinent und kommen überein, dass das eigentlich aktueller Stoff für eine Bond-Verfilmung wäre: Irgendein mächtiger Agrar-Typ korrumpiert ein paar Staatschefs einer bestimmten Weltgegend, wo die dortigen Mafiosi zur Abschlachtung der einheimischen Bevölkerung engagiert werden und auch gleich ein paar Oppositionspolitiker*innen dazu – die einfachen Menschen fliehen ihre Landwirtschaften, versuchen wenigstens das Leben ihrer Kinder zu retten; die Agrar-Konzern-Hörigen bekommen das verbliebene Land zur Bewirtschaftung, verseuchen weiterhin im Dienste der „Ernährungssicherheit“ mit Monokultur- und konventionellem Anbau weite Regionen. Die künstlich generierte Schar an Flüchtlingen wird in zentralen Lagern „aufgefangen“ und rückgestaut – bildmächtig an Grenzen wie Zäunen oder Mauern – denn nur so kann in Folge erst ein Flüchtlings-“Strom“ entstehen. Mit wirkmächtigen Geschichten und Bildern begleitet, treiben diese Menschen-ent-rechteten gesteuert in jene sozial-rechtsstaatlichen Gegenden, die politisch destabilisiert werden sollen. Ziel ist ja nicht, dass Menschen in ihrer über Jahrzehnte erworbenen, sozialen Sicherheit leben (also nicht jedem billigen Bullshit-Job hinterher hechten müssen – siehe Amerika!), sondern in täglicher Sorge um die Deckung der Grundbedürfnisse, was sie wiederum gefügig macht, wenn es um Einkommens- und Jobangebote geht. Auf Arbeitsrechte wird gepfiffen, auf Grundrechte ebenso, Kollaboration mit den rechten Rändern und deren Ausfransungen wird vom „no go!“ zum „na, göh…!“.
„Am Ende des Tages“ steht die Re-Installation einer hierarchischen Klassengesellschaft dank neoliberalem Wirtschaftsgefüge, aus dem Förderungen und Subventionen jenen zuteil werden, die erbende Leistungsträger sind, in jedem Fall opinion leader. Die Konzerne-gebärende Geldaristokratie investiert steuerschonend in irgendeinen „Aufräumer“, der als Messias der rechtspopulistischen Politwelten auferstehen kann und in betulich-weltmännischer Gebärde die Zukunftsängste seiner Landsleute zu benennen weiß, solange sich nur Schuldige finden und denunzieren lassen. Eigentlich Taschenspieler-Tricks, die die Bestohlenen mit einem „haltet den afghanischen,… Dieb!“ ablenken, während die großen Scheine gezogen und ein Finanz-Coup nach dem anderen in aller Stille hinter den Kulissen abläuft.
„Solange nicht wieder die Gleichen eine andere Hypo-Alpe-Adria an die Wand fahren, funktioniert bei uns das System verlässlich mindestens seit dem Mittelalter, Stichwort Brunnenvergifter,“ beende ich meine fiktive Drehbuch-Reise und kaue an meiner Unterlippe, weil mir das passende Setting für ein Happyend grad nur in Kombination mit Raumschiffen und zugerittenen Tigern einfällt. Da wird's eng am Ballhausplatz…

Meine Freundin weiß über europäische Geschichte zwar grob, doch nicht im Detail Bescheid, ist in jedem Fall aber nicht damit einverstanden, dass ich das amerikanische Erfolgsmodell so im zwei glatt, zwei verkehrt-Verfahren auf Raub, Mord, Totschlag, Ausbeutung subsumiere. Also hole ich nochmals aus und erkläre die Wirkmächtigkeit von Mythen und deren longue durée, genährt etwa durch kollektives Schön-lügen… ein beliebter Volkssport auch hierzulande, der sich nicht nur beim Stockeinsatz („Kickl aus dem Sack“) im Werte-Slalom durch die „unsere Kultur“-Landschaften zeigt.

„Vergleichbar mit dem Anschluss an Hitler-Deutschland, den der Großteil der österreichischen Bevölkerung 1938 noch frenetisch jubelnd begrüßte, wurde nur sieben Jahre später, nachdem die faschistische Inbesitznahme der ganzen Welt doch nicht so erfolgreich gelaufen ist, eine strategisch duckmäuserische „Opfer“-Geschichte in Rot-Weiß-Rot formuliert,“ erzähle ich im gemütlichen Plauderton.
Sie lacht auf und weist darauf hin, dass gerade in ihrer südamerikanischen Heimat heute noch sehr viele Menschen wohnen, deren Vorfahren erst nach 1945 Probleme im deutschen Umfeld bekommen haben. Ich nenne den Namen Eichmann, wir nicken beide, sie sagt „for example“ und erzählt mir in verschwörerischem Ton, dass sie schon als Kind gelernt hätte, im Umgang mit jüdischen Menschen vorsichtig zu sein, weil das doch schon ihre tschechische Oma gewusst hätte. „Stammesgeschichtlich eigentlich K.u.K.-österreichische Abstammung,“ erwähne ich, ebenso beiläufig gefolgt von „wie es die meinige auch war“, was einen wenig zurückhaltenden „we are family!“-Juchzer zur Folge hat. Wir kichern, finden unser Übereinkommen in grundsätzlicher Ablehnung von Grenzen und Niederlassungsvorschriften.
(By the way hat meine Freundin aktuell zwei gültige Reisepässe und drei Staatszugehörigkeiten; da auch ein EU-Staat darunter ist, kann sie praktisch auf drei Kontinenten wohnen, arbeiten, Unternehmen gründen – alles nur, weil sie nach dem Studium als „Wirtschaftsflüchtling“ ihre Heimat verlassen und unter anderem auch ein paar Monate in Österreich legal arbeiten durfte).

 

Derweil sie in Australien lebte, hatte sie gelesen, dass in Österreich nun wieder Faschisten in der Regierung sitzen – das könne aber so nicht stimmen, oder? „Richtig.“ lautet meine Antwort, ergänzt mit „Falsch ist, wie du das formulierst, du musst nämlich den Konjunktiv verwenden. Andernfalls kannst du nämlich geklagt werden, weil es de jure ein Wiederbetätigungsverbot im Lande gibt, du de facto also nicht sagen darfst, dass es Nazis sind, weil du dich mit einer derartigen Behauptung strafbar machst.“ Sie lächelt, nickt, fragt diesmal „why?“ und will nach meinem „wenn meine Tant' ein Dingserl hätt', wäre sie mein Onkel“-Konjunktiv-Erklärungsmodell wissen, wie das denn so „back in the days“ nach den Nazis war.
Mich amüsiert die Formulierung „nach“, ich denke kurz an Krems, wo der '45-davor-Bürgermeister zugleich der Danach-Bürgermeister geblieben war… und an meine Kindheit in der Heimatstadt, wo die Schulkinder während des Krieges einen exakten Hitler-Gruß trainieren mussten, um den verwundeten Nazi-Helden standesgemäß begrüßen zu können – derselbe blieb „danach“ jahrzehntelang als Volksschuldirektor im Amt, war Bürgermeister der beschaulichen Weinstadt, die Schule nach ihm benannt… die unmittelbare Gegend ist ehemals Wehrsport-Übenden in der heutigen Regierung vertraut, sozusagen „Vize-versa“ mit zwei blauen Augen aus dem Paintball-Gerangel, Wiederbetätigung und so gekommen. Recht hat schließlich nichts mit Gerechtigkeit zu tun.

Ihr nochmaliges „why?“ beamt mich ins Jetzt. Ich setze mit „Karin und wie sie die Welt sieht“ in gestraffter Weise fort: „Der anfängliche Territorialkrieg WKII war hintenraus zum Clash zweier völlig extremer Wirtschaftssysteme geworden, was uns in Österreich erst einmal den Arsch gerettet hat. Geographisch wurde der Eiserne Vorhang hinter uns zugezogen, kosmetisch wurde eine vorübergehende Befreiung von Nazi-Herrschaften proklamiert. Dass deren Saat trotzdem gekeimt hat und aufgegangen ist, deren Wiedergänger nun in der österreichischen und europäischen Politik erneut auftauchen und Krawallpolitik betreiben können, liegt nicht nur daran, dass sie nie „weg“ waren oder halt nur einen anderen Hut aufhatten – paradoxerweise werden diese willfährigen Gestalten nun nicht mehr (nur) durch Sponsoring von Rüstungskonzernen alter Manier bezahlt, sondern von „Medien-Waffen-Industrie“. Datenbesitz- und Internet-Konzerne installieren ihre Marionettenspieler in Schlüsselpositionen (Stichwort Steuerschonung), eine globalisierte Gleichschaltung im neoliberalen Sinne hat längst begonnen, weil die Ideen von Hayek für einige Wenige besser funktionieren als ein sozioökonomisch-orientiertes Gemeinwohl-System im Sinne von Keynes, Polanyi… für breite Bevölkerungsschichten,“ stelle ich achselzuckend fest, dass ich das eh schon anfangs auch gesagt habe, richte mich aber trotzdem kerzengerade auf und lege nochmals los:
„Daher funktioniert der Politik-Stil 'message control' so gut mit Protagonisten, die die System-Zusammenhänge und deren langfristige Auswirkungen auf Volkswirtschaften nicht verstehen – diese Ahnungslosen denken doch nur von zwölfe bis z'Mittag, also von ihrem Amtsantritt bis zur nächsten Parteispende!“ rede ich eifrig und generiere zunehmend Naturrouge auf meine Wangen: „Deren gnadenlose Raubtier-Mentalität und der aggressive Ego-Kapitalismus bedingen einander, ebnen eine rücksichtslose Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft, was mit Ablenkungs-Messages vertuscht oder einfach schön gelogen, vor allem aber im Namen der neoliberalen Wirtschaftsziele als notwendig verkauft wird.“
Ich hole nochmals tief Luft und lehne mich endgültig in die Nordkurve meines Gedankenbogens, um thematisch wieder nach Amerika zurück zu kommen:
„In relativ wenigen Jahrzehnten des angewandten Neoliberalismus wurde der halbe Kontinent Nordamerika's in schändlichster Weise vergewaltigt, großteils zerstört und auf Generationen hinaus unbewohnbar gemacht. Trotzdem wird dieser Schwachsinn-Lebensstil seit Jahrzehnten von uns importiert, geben wir diesem asozialen Wirtschaftsdenken, diesem disfunktionalen System gesellschaftspolitische Handlungsfreiheit! Der stockdumm-blinde Technik-Glaube aus Zeiten des Ford'schen Förderbandes und dieselben religiösen Verheißungen nach Wachstum, diesmal aus dem Silly(!)ConValley eitern ungesund in diffusen Wirtschaftsblasen…“ Ich verziehe angeekelt meine Mundwinkel nach unten. „Aber immer mehr Gesellschaften weltweit laufen mit im neoliberalen Zug der Polit-Lemminge. Anstatt aus diesem Zukunftsversagen zu lernen, NEIN!“ schreie ich jetzt, „stattdessen kopieren wir ein komplett gestörtes Wirtschaftssystem quasi eins zu eins, sogar soweit, dass längst auch hierorts Kapital-gesteuerte Polit-Idioten an der Spitze des Staates installiert sind und uns mit 'wer fürchtet sich vor'm schwarzen Mann' zumüllen! Wie soll eine Zukunft in der Wiederholung der Fehler aus der Vergangenheit liegen?“
Einige Mitreisende drehen nun ihre Köpfe zu uns um, zwei Frauen mittleren Alters tuscheln miteinander, während sie mich giftig mustern; ein jüngerer Mann grinst mich breit an und nickt mir zu. Die Kellnerin eilt herbei und fragt in beflissenem Balkan-Wienerisch, ob wir noch „was winschn“, während sie demonstrativ die nun leicht feucht-bespuckte Tischplatte vor mir abwischt. Meine Freundin bestellt die Rechnung in freundlichem Englisch, mit dem sie sich nun auch mir zuwendet und mich belustigt darauf hinweist, dass sie nach wie vor kein Deutsch versteht – so eifrig, laut oder temperamentvoll ich mich auch mitzuteilen versuche. Und ob ich nicht die letzten fünf Minuten nochmals in Englisch wiederholen kann… ich winke ab. Ehrliches Echauffieren funktioniert nur muttersprachlich.

Derweil ich meinen Radhelm im Rucksack verstaue, Haube und Handschuhe oben drauf platziere, schwärmt meine Reisegefährtin vom „Australian way of life“, dem easy going, wenn es etwa darum geht, rund um Melbourne eine Firma zu gründen oder Einbürgerungs-Dokumente zu bekommen. Ich frage nach, wie das Öffi-Angebot gestaltet ist, welche leistbaren Kinderbetreuungseinrichtungen oder Krankenversicherungen zur Verfügung stehen und ob Unterstützungen für Alleinerzieher*innen existieren. Ihren staunend fragenden Blick interpretiere ich als sozialpolitisches Neuland im bisherigen Leben – sie schüttelt den Kopf und senkt den Blick, als ich ihr meine Definition von einem prosperierenden Land erkläre: Die einzige Zahl, die mich interessiert, ist die Anzahl jener Menschen, die ein gutes, sozial abgesichertes Leben in Würde führen können, das sie mit ihrem Einkommen in „nur“ einem Job zu bestreiten imstande sind.
Sie hört interessiert meinen Proklamationen zu, die vom „Roten Wien“ bis zur Kreisky-Ära und den Ideen eines Yanis Varoufakis für Europa reichen – beide werden eifrig dank einschlägiger Propaganda gedisst und angepatzt, ihre Ideen als phantastisch abgetan, vor allem von jenen, die nicht den leisesten Tau von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen haben. Ich führe die post- oder neofaschistischen Phantasien eines Jörg Haider aus (sein Sponsor war übrigens der Dosen-Energizer, der im Gewerkschaft-befreiten Privatfunk krudes Medienzeugs produzieren lässt – und nein, das trinken wir nicht nur deshalb nicht, sondern weil zwanzig Zuckerwürfel in einem Viertelliter sind und es grauslich schmeckt!). Zu Schwarz-Blau I und „Schwatz-Blaun“ der Jetztzeit mag ich nimmer Energie investieren. Und so reisen wir in gedämpfter Lautstärke, sprich unaufgeregt, ergo uns in englischer Sprache unterhaltend nicht nur durch heimische Politlandschaft und erreichen schließlich Salzburg.
Beim Aussteigen tippt mir der junge Mitreisende vom Nachbartisch auf die Schulter und fragt, ob ich nicht in die Politik gehen wolle – mit einem launigen „an heutigen Maßstäben gemessen, bin ich zu überqualifiziert, um Kanzlerin zu werden“ wünsche ich ihm lächelnd einen schönen Tag. Und denke mir still, dass ich im Parlament auszucken würde, müsste ich als Abgeordnete dem blasierten Weitpinkeln so vieler Polit-Menschen folgen. Außerdem gibt es diese sozio-ökonomische Europa-Partei ja noch gar nicht…

„Alle Probleme, die wir heute in Europa, sprich Österreich zu bewältigen haben, sind hausgemacht,“ doziere ich unerschrocken weiter, während meine Freundin und ich Richtung Altstadt eilen. Meine Freundin merkt lakonisch an, dass wir als einzelne da wohl wenig ändern könnten. „On the contrary!“ belle ich in die Salzburger Luft, „wir kaufen irgendwelchen billigen Schwachsinn, der hintenrum das Dreifache an volkswirtschaftlichen Kosten erzeugt. Wer von Amazon bis Zalando einkauft, kann dies nur tun, weil die Beschäftigten in diesen Konzernen Quasi-Sklavenhaltung statt moderne Arbeitsbedingungen erfahren! Und weil der Transport nix kostet, jedes Packerl querfeldein durch Europa kutschiert wird, ohne dass zum Beispiel Klimasteuer oder Luft-Gesundheitsgebühren eingehoben werden,“ steigere ich mich ins Crescendo, um zum Finale furioso anzusetzen: „Für eigenverantwortliches Handeln brauche ich keine Gesetze, ich kann meine Macht als Konsumentin nutzen und mir genau überlegen, wo ich einkaufe und vor allem was ich wirklich will und tatsächlich brauche.“
Im nächsten Moment halte ich inne und denke an meine Wunschliste im Rapha-Webshop… verdammt. Klarer Fall von Selbstschach. Logisch, dass ich die Hälfte dieser überlebenswichtigen Radsport-Utensilien sofort bestellen würde, hätte ich das nötige Kleingeld dafür. Also zumindest das eine oder andere Teil, ist doch hochwertige Qualität und in Europa hergestellt, langlebiger als alles andere… na geh! Wenigstens die Regenjacke für den Stadtverkehr, das Langarm-Trikot für's erste Februar-Training… „Belohnung muss auch sein, darf sein!“ murmle ich trotzig.

„Ich will es wenigstens versuchen, so zu leben, dass ich meinen Enkelkindern dereinst in die Augen schauen kann, wenn sie mich fragen, ob ich das denn nicht gewusst hätte… diese Zerstörung von Umwelt, des Lebens auf diesem Planeten, angefeuert durch unser tägliches Verhalten. Ferngesteuert funktionieren, nicht nachfragen und Verantwortung abgegeben, geht doch nicht. Wir dürfen nicht leichtfertig unsere demokratischen Rechte den Wirtschaftsinteressen opfern,“ räume ich ein und setzte kämpferisch eine Summary alles bisher Gesagten nach: „Uns Konzernen ausliefern, die weltweit eine narzisstische Polit-Prostitution finanzieren, für die sich Personen hergeben, die nix Anderes gelernt haben und in hohlen Stehsätzen ihre auswendig gelernten Phrasen dreschen?!“ Demonstrativ bleib ich mitten am Gehsteig stehen und übe mich im urbi-et-orbi-esken Basti-Hände-wacheln. „Allein wenn ich nur dieses depperte 'am Ende des Tages' höre, weiß ich schon, aus welcher Rhetorik-Ecke das kommt!“ Angewidert setze ich einen Würgelaut nach, ziehe theatralisch die Schultern hoch und strecke dabei wenig damenhaft meine Zunge weit raus.

Wir lachen beide, sie vor allem über ihre Bemerkung, dass ich mich wohl nie ändern werde. Sie hakt sich mit einem „Young at heart!“ bei mir unter, seufzend tauche ich ins Gewurl der Getreidegasse ein. „Look! Oh so romantic… speaking of romance – tell me about this guy…“.
Aber das ist eine ganz andere Geschichte.