Wenn ich endlich die Radschuhe anhabe, mich für die passenden Farbscheiben in der Sportbrille entschieden und sogar die Qual der Wahl „Riegel oder Banane?“ getroffen habe, bevor ich den Helm schnappe, die Handschuhe anziehe und das Rad raus ins Stiegenhaus bugsiere, werfe ich noch einen Blick auf die Küchenuhr, um meine Startzeit zu wissen. Und wenn ich dann an meinem Ziel angekommen bin, zum Beispiel am Hauptplatz in Tulln, schaue ich dort wieder auf eine Uhr.

So weiß ich seit vergangenem Mai, dass ich endlich viel weniger als zwei Stunden unterwegs war, auf den 43-45km der Anfahrt. Was ich nicht weiß, ist die exakt geleistete Durchschnittsgeschwindigkeit oder die genaue Meteranzahl des zurückgelegten Weges, weil ich ja eh schon in Erfahrung gebracht habe, dass es von „mir daheim“ bis zur Bananensplit-Labestation in Tulln eben bissl mehr als vierzig Kilometer sind. Abhängig davon, ob ich nun herüben, sprich via Klosterneuburg oder drüben, also über Korneuburg und die Greifenstein-Donauquerung in die mir lieb gewordene Hauptstadt der Kreisverkehre Rennrad fahre (und dabei kein Radrennen fahre).

Daumen mal π

Meine vage Leistungserfassung ist jenen Menschen genug Information, die in der Art „Und wie lange bist du dann so unterwegs, mit diesem Radl?“ fragen; zugegeben, sind es jene, die unter „Kette rechts“ einen Mode-Trend der 1920er Jahre vermuten. Vertretern der Spezies MAMIL (Middle Aged Men in Lycra) jedoch, denen ich nicht den aktuellen „Schnitt“ auf Punkt genau nennen kann, treibt mein Laissez-faire im Umgang mit Ausdauer-Optimierung die schiere Empörung unter's Helmdach. Diese Strampelmänner legen keinen Wert auf die exakte Leistungsdokumentation zum inneren Antrieb und einer zutiefst persönlichen Befriedigung (unterstelle ich jetzt einmal freihändig). Deren Herzeige-Erfolge haben auch buchstäblich welche zu sein, werden gepostet und geshared und geliked und kommentiert, dienen der imaginären Revier-Grenzziehung innerhalb ihres Logo-bunten Rad-Rudels. Denn was nützen schon stille Erkenntnis und stumme Zufriedenheit mit der Leistung zur Selbstüberwindung, wenn die Welt davon nicht Kunde bekommt?

Leistungs- und andere Kurven.

Was mir derweil reicht, wenn ich mit roten Wangen und zart schmerzenden Beinmuskeln beim „Sport-Eisbecher“ sitze, ist das Wissen, dass ich aktuell mein Leben sehr genieße. Dazu gehören auch die wohlige Müdigkeit, die mir später tiefen Schlaf schenken wird und der Genuss im Moment, den mir die langsam schmelzende Bacio-Köstlichkeit samt fettem Schlagobers-Bett und süßer Schoko-Sauce bereitet – der Dank geht an meinen Körper, der mich nicht nur mit allen Sinnen genießen lässt und mich wieder einmal bissl mehr als 90km radeln hat lassen. Froh bin ich für meine Willensstärke, die mich verlässlich in den Arsch tritt, wenn sich meine Komfortzone in Treibsand verwandelt…
Wozu also Auflistungen meiner Aktivitäten (die manchmal intensiver und sehr positiv ausfallen, dann wieder eher mau, weil viel Überwindung notwendig ist, um mich überhaupt von der Couch zu wuchten – je nach Tagesverfassung und Stimmungskonstellation halt, Wetterlage nicht zu vergessen… ist ja logisch, oder?)? Und noch viel wichtiger: Warum sollte die Welt da draußen überhaupt einen Funken Interesse an meinem Tagespensum Sporteinheiten haben?

Fasziniert studiere ich gelegentlich fremde Dokumentationen von Herzeige-Leistung, trotzdem die für mich wirklich relevanten Parameter fehlen, die eben nicht messbaren Faktoren „Spaß & Genuss“ nämlich. Stumme Zahlen-Salate aus Höhenmetern und Steigungsprozenten starren mich an, beschreiben mir nicht im mindesten die Echofarben der Route, welcher Duft dort über der Donau schwebt, dort, wo sich das Wasser changierend kräuselt, oder wie die Lust im Herzen juchzt, wenn der Anstieg erst bezwungen ist. Auswertungen sagen mir wenig bis gar nix, so wie mir ja auch die Zacken eines EKG niemals verraten können, ob der zugehörige Mensch denn auch zu jener Leidenschaft fähig ist, die ihn in meiner Wahrnehmung zu einem Herzensmenschen macht. Die Tatsache allein, dass da ein Organ funktioniert, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Rest-Person es auch in allen Facetten (Stichwort „Spaß & Genuss“!) anzuwenden weiß, Höhen und Tiefen der Klangfarben in den Herzschlägen spüren und zulassen kann.

Kastldenken.

Die Crux mit meiner Listen- und Graphen-Skepsis verorte ich in einer natürlichen Aversion gegen mathematisch konnotierte Darstellungsvarianten und im tiefen Misstrauen gegen alles, was penible Ordnung in Reih und Glied symbolisiert. Schon die von normalen Menschen geschätzten und ach-so-praktischen xcel-Tabellen alarmieren bereits mein Abwehrsystem. Deren kleinkarierte Optik kann ich nur frei nach Lorelai Gilmore kommentieren: Wenn eine Beschäftigung mit winzigen Kästchen von mir erwartet wird, dann sollten diese bitteschön den Herkunftsnachweis „Skrein“ tragen.
Meine eleganten Ausweichstrategien habe ich auch beim Studium der Soziologie angewandt und es wie einen Strudelteig gezogen, bis ich mich der Tatsache stellen musste, dass „Multivariate Verfahren“ und „Einführung in die Statistik“ keine Wahlfächer sind. Beiden Lehrveranstaltungen habe ich auch tatsächlich eine Chance gegeben, um beim jeweils ersten Besuch auf Anhieb zu wissen: Das sind Andreas Gabalier- und Helene Fischer-Termine, was so viel heißt wie, nicht einmal wenn man mir viel Geld zahlte, ginge ich jemals dorthin!